Tunis/OslO. Vier Gruppen mit Friedenspreis ausgezeichnet. Der Kampf um die Zukunft des Landes dauert an

Tunesiens Gewerkschaftschef Houcine Abbassi kann seine Freude kaum fassen. „Ich bin überwältigt“, jubelte der 68-Jährige und widmete spontan sein Viertel des Friedensnobelpreises den „Märtyrern für ein demokratisches Tunesien“. Dieser Einsatz der Jugend habe dem Land die Chance eröffnet, die Diktatur abzuschütteln, erklärte der charismatische Arbeiterführer, der zu den Schlüsselfiguren der tunesischen Zivilgesellschaft gehört. Abbassi wurde gestern als ein Vertreter von vier Gruppen der tunesischen Demokratiebewegung vom norwegischen Nobelkomitee mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Dem „Quartett für den nationalen Dialog“ gehören neben dem tunesischen Gewerkschaftsverband (UGTT) auch der tunesische Arbeitgeberverband (UTICA), die tunesische Menschenrechtsliga (LTDH) sowie die Anwaltskammer an. Alle Gruppen haben nach dem Urteil des Nobelkomitees „einen entscheidenden Beitrag für das Entstehen einer pluralistischen Demokratie in Tunesien nach der Jasminrevolution geleistet“. Die Ehrung sei eine „Ermutigung für das tunesische Volk und eine Inspiration für andere, besonders in dem aufgewühlten Nahen Osten“, hieß es in der Begründung.

Das kleine Tunesien mit seinen elf Millionen Bürgern kann den globalen Zuspruch durch den Nobelpreis 2015 gut gebrauchen. Der Mittelmeeranrainer ist die Wiege des Arabischen Frühlings und inzwischen das einzige Revolutionsland, welches bisher den Absturz in Anarchie und Bürgerkrieg wie Libyen, Syrien und Jemen oder den Rückfall in ein autoritäres Staatsregime wie Ägypten vermeiden konnte. Grund dafür sind vor allem die starke Zivilgesellschaft sowie die mächtigen Gewerkschaften, die seit dem Sturz des Diktators Zine el-Abidine Ben Ali mit ihrem Quartett eine Plattform für einen nationalen Dialog schufen, der bei der Staatskrise Ende 2013 alle Kontrahenten an einen Tisch und zu einem rettenden Megakompromiss zwang. Nach den beiden Morden an den Linkspolitikern Chokri Belaid und Mohamed Brahmi stand die Zukunft Tunesiens auf Messers Schneide. Aufgebrachte Bürger demonstrierten in den Straßen, Gewalttaten und Übergriffe häuften sich, die Nation lief aus dem Ruder.

Auf Vermittlung des Quartetts verhandelte das islamistische und säkulare Lager zunächst alle strittigen Probleme bei der postrevolutionären Verfassung, sodass die total gelähmte verfassungsgebende Versammlung das neue Grundgesetz schließlich am 26. Januar 2014 mit überwältigender Mehrheit verabschieden konnte. Parallel dazu erklärte sich die seit 2011 amtierende Interimsregierung unter Führung der islamistischen Ennahda bereit, den Weg für ein Kabinett aus Technokraten freizumachen. Die neue Regierung organisierte in der zweiten Hälfte 2014 dann die ersten regulären und freien Parlaments- und Präsidentenwahlen seit der Unabhängigkeit Tunesiens. Es kam zu einem friedlichen Machtwechsel.

Doch die Nobelpreisgewinner wissen, dass der Weg von den euphorischen Tagen im Januar 2011 hin zu einer stabilen Demokratie lang ist. 15 Prozent Arbeitslosigkeit, eine stotternde Wirtschaft sowie die Terrorgefahr sind die größten Probleme. Bei einem Massaker im März vor dem Bardo-Museum in Tunis starben 22 Menschen, drei Monate später richtete ein Tunesier in Sousse mit einer Kalaschnikow am Strand 38 Touristen hin. 3000 junge Tunesier kämpfen inzwischen an der Seite des „Islamischen Staates“ in Syrien und Irak. „Ihr werdet kein ruhiges Leben mehr haben, wenn in Tunesien nicht die Scharia eingeführt wird“, drohten die Fanatiker in Videos ihren Landsleuten daheim.