Berlin.

Thomas de Maizière steht im Zentrum des Krisenmanagements und manchmal auch im Zentrum der Kritik. Dafür wirkt der CDU-Politiker an diesem Morgen ziemlich gelassen – und äußert sich erstaunlich offen.

Hamburger Abendblatt: Tag für Tag kommen Tausende Flüchtlinge nach Deutschland. Haben Sie die Lage noch im Griff, Herr de Maizière?

Thomas de Maizière: Kein einzelner Mensch kann diese nationale Herausforderung alleine bewältigen. Was Bund, Länder und Kommunen geleistet haben, kann sich sehen lassen – obwohl da nicht alles perfekt ist.

Kanzlerin Merkel macht die Flüchtlingshilfe jetzt zur Chefsache. Ein Misstrauensvotum gegen den Innenminister ...

De Maizière: Im Gegenteil. Die Koordinierung der Ressorts durch das Kanzleramt ist selbstverständlich. Das weiß ich als ehemaliger Chef des Bundeskanzleramts sehr genau. Zentral ist die auf meinen Vorschlag hin erfolgte Bündelung der operativen Verantwortlichkeiten der verschiedenen Ressorts bei uns im Innenministerium. Es ist doch klar, dass viele der Aufgaben nur im Zusammenwirken aller Verantwortlichen vernünftig gelöst werden können. Dass sich die anderen Ressorts jetzt klar dazu bekannt haben, sich in dem von uns geleiteten Stab einzubringen, ist ein wichtiger Schritt nach vorn.

Können Sie sagen, wie viele Asylbewerber es in diesem Jahr sein werden? Eine Million? 1,5 Millionen?

De Maizière: Jede höhere Prognose als die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge genannten 800.000 Asylbewerber könnte von den Schlepperorganisationen umgedeutet werden als zusätzliche Einladung, nach Deutschland zu kommen. Weil wir keinen neuen Sogeffekt auslösen wollen, werde ich aktuell keine neue Prognose machen. Hinzu kommt, dass sich Flüchtlinge auch der Registrierung entziehen.

In anderen Worten: Die Situation ist außer Kontrolle geraten.

De Maizière: Nein. Seit wir die Grenzkontrollen wieder eingeführt haben, wissen wir sehr viel besser, wer kommt. Außerdem wenden sich die Menschen an die Behörden, wenn sie Hilfe brauchen. Früher oder später ist dann doch die Großzahl erfasst – aber eben noch nicht in den ersten Tagen.

Meistern wir die Herausforderung mit offenen Grenzen?

De Maizière: Bund und Länder haben sich auf ein großes Gesetzespaket verständigt, das gewaltige Änderungen vorsieht. So werden wir alle Staaten des westlichen Balkans zu sicheren Drittstaaten erklären. Das Paket wird seine Wirkung entfalten. Und was den Schutz der Grenzen angeht: Wir haben eine 800 Kilometer lange Grenze zu Österreich ...

… die man in der CSU am liebsten mit einem Zaun sichern würde.

De Maizière: Ich glaube nicht, dass man mit Zäunen an den Grenzen Deutschlands das Problem löst. Schon wegen der Länge der Grenze wäre das auch völlig unrealistisch. Es geht vielmehr darum, den Schutz der europäischen Außengrenzen sicherzustellen und daran zu arbeiten, dass nicht mehr so viele Menschen nach Europa kommen.

Haben Sie nie an eine Schließung der Grenzen gedacht?

De Maizière: Wir haben diese Frage erörtert – und verworfen. Es gibt europarechtliche Bedenken und faktische Begrenzungen, so etwas durchzusetzen. Wir haben uns zunächst dafür entschieden, Grenzkontrollen wieder einzuführen.

Viele Bürger fragen sich, ob Deutschland ein sicherer Ort bleibt.

De Maizière: Ja. Aber wir waren und sind im Fokus des internationalen Terrorismus. Wir hatten Anschlagsversuche, man denke nur an die sogenannte Sauerlandgruppe. Dass es in Deutschland nicht zu großen Anschlägen gekommen ist, haben wir der Tüchtigkeit der Sicherheitsbehörden zu verdanken, und es war auch Glück dabei. Niemand kann absolut ausschließen, dass es auch mal anders ausgeht. Es gab und es gibt Hinweise von Nachrichtendiensten aus dem Ausland, dass sich Terroristen unter die Flüchtlinge mischen. Das zeigt, wie wichtig die Zusammenarbeit mit anderen Nachrichtendiensten ist, auch wenn sie zum Teil aus Staaten kommen, die nicht ganz unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung haben. Wir nehmen all diese Hinweise ernst und gehen ihnen nach. Bisher hat sich keiner dieser Hinweise irgendwie bewahrheitet.

Sind Asylbewerber unter Terrorverdacht festgenommen worden?

De Maizière: Nein. Wir sind in diesen Fragen aber insgesamt sehr wachsam. Wir wollen Verfahren beschleunigen und tun das auch. Aber bei der Feststellung der Identität müssen wir sehr sorgfältig sein – gerade wenn die Menschen aus Krisengebieten kommen. Die Befragung von Flüchtlingen ist ebenfalls von großem Wert auch für Erkenntnisse über die Situation in den Herkunftsländern.

Sie kennen Angela Merkel seit vielen Jahren. Wie erklären Sie ihre Willkommensgesten?

De Maizière: Die Bundeskanzlerin wird oft zu einseitig geschildert. Als sie einem Mädchen in einer Sendung gesagt hat, sie müsse wahrscheinlich unser Land verlassen, wurde geschrieben, sie habe kein Herz. Das war ebenso falsch wie die Beschreibung jetzt, sie sei einverstanden, dass die ganze Welt nach Deutschland komme. Die Bundeskanzlerin ist eine Frau von Maß und Mitte. Sie denkt sehr international und kennt die Wirkung ihrer Worte. In der aktuellen Lage muss man sehr genau die Wirkung der Worte abwägen. Die Bundeskanzlerin tut das.

Begreift die CSU das nicht?

De Maizière: Dass ich mir in der Union mehr Geschlossenheit wünschen würde, versteht sich von selbst. Angesichts dieser epochalen Herausforderung wäre es aber merkwürdig, wenn alle gleichförmig reden würden.

Die Distanz zwischen den Chefs von CDU und CSU könnte kaum größer sein.

De Maizière: Das beschäftigt mich, und das ist auch nicht schön. Doch das war häufiger so in der Geschichte der Schwesterparteien. Ich halte manche Äußerung von Horst Seehofer nicht für richtig. Aber eines muss man auch mal sagen: Was die Bayern in der Flüchtlingskrise leisten, ist gigantisch.

An vielen Orten – auch in Bayern – brennen Flüchtlingsunterkünfte. Kippt die Stimmung?

De Maizière: Diese Entwicklung beunruhigt mich. Wir haben einen massiven Anstieg fremdenfeindlicher Übergriffe auf Asylbewerber. Insgesamt gab es in diesem Jahr bereits mehr als 490 Straftaten gegen Asylbewerberunterkünfte. Wir haben die bisher bekannten Tatverdächtigen analysiert, und das Ergebnis ist ebenfalls erschreckend: Ein Drittel von ihnen ist wegen rechtsextremistischer Straftaten oder sonstwie polizeibekannt. Zwei Drittel allerdings sind Bürger aus der Region, die sich bisher nichts zuschulden kommen ließen. Ich finde diesen Zuwachs an Menschen, die Gewalt anwenden, besorgniserregend. Diesen Leuten muss man hart entgegentreten. Wir müssen ihnen begreiflich machen, dass sie inakzeptable Straftaten begehen: Körperverletzungen, Mordversuche, Brandanschläge. Das ist eine Schande für Deutschland. Da darf es auch keine klammheimliche Zustimmung geben. Und wir müssen noch einer weiteren Entwicklung entgegentreten …

… nämlich?

De Maizière: Gewalt gegen Asylbewerber wird im Übrigen begleitet von Hassmails, von Beleidigungen, von einer Gossensprache. Bis vor Kurzem habe ich nicht geglaubt, dass sich jemand trauen könnte, so etwas öffentlich zu sagen. Es sind Zivilisationsschranken gefallen. Dafür gibt es keine Entschuldigung, und wir müssen hart dagegenhalten. Wir müssen darum kämpfen, dass man bestimmte Dinge einfach nicht sagt und tut. Wir dürfen Gewalt und Hass nicht tolerieren.