Brüssel.

Von seinem Büro im neunten Stock des Europaparlaments aus kann Martin Schulz ganz Brüssel überblicken. Die Europäische Kommission liegt nur ein paar Straßenzüge entfernt. Der sozialdemokratische Parlamentspräsident schaut mit Sorge auf die Herausforderungen, die vor Deutschland und Europa liegen.

Hamburger Abendblatt: Die Automobilindustrie wird von einem Skandal um manipulierte Abgaswerte erschüttert. Können Sie ermessen, welche Dimension der Schaden hat?

Martin Schulz: Das ist ein schwerer Schlag für die deutsche Wirtschaft insgesamt. Es ist kaum zu fassen, was da mit Fahrlässigkeit und möglicherweise sogar krimineller Energie gemacht wurde. Ich glaube aber, dass Volkswagen ein starker Konzern ist, der alle Chancen hat, die Krise zu überstehen. Entscheidend wird sein, Vertrauen zurückzugewinnen. Deswegen irritieren mich manche Reaktionen.

Welche?

Schulz: In Europa – und nicht nur da – gibt es leider auch Schadenfreude. Manchen Leuten ist Deutschland in den vergangenen Jahren als ein selbstgerechtes und selbstgefälliges Land erschienen, in dem alles besser ist als in jedem anderen. Die sagen jetzt: „Voilà! Die Deutschen kochen auch nur mit Wasser. Das tut denen auch mal gut.“ Ich finde das bitter.

Es waren Ermittlungen der US-Justiz, die zur Aufdeckung zweifelhafter Praktiken führten – wie schon im Fall der Fifa. Erkennen Sie Versäumnisse deutscher und europäischer Stellen?

Schulz: Ich kann nicht beurteilen, ob es in Deutschland und Europa strafbare Tatbestände gab, die man frühzeitig hätte erkennen können. Ich habe allerdings Zweifel an der Effektivität der Kontrollmechanismen. Jetzt geht es darum, so schnell wie möglich Prüfverfahren einzuführen, die nicht manipulierbar sind. Wir müssen die tatsächlichen Emissions- und Verbrauchswerte ermitteln: auf der Straße und nicht im Labor. Es ist völlig klar, dass die Kon­trollen schärfer werden müssen.

Sollten Manager, die Fehlverhalten in dieser Größenordnung verantworten, auch mit ihrem Privatvermögen haften?

Schulz: Das war ein Anschlag auf den Standort Deutschland, auf viele Tausend Kunden und Arbeitnehmer. Ob Volkswagen, ob Deutschland verlorenes Vertrauen zurückgewinnt, entscheidet sich auch bei der Aufarbeitung des Skandals. Wenn das Ausland sieht, dass die Justiz ohne Ansehen der Person die Schuldigen schnell zur Rechenschaft zieht, kann neues Vertrauen entstehen. Unabhängig von der strafrechtlichen Beurteilung sieht das Aktien- und Gesellschaftsrecht grundsätzlich eine Managerhaftung mit Privatvermögen vor. Es wäre in einem solchen Fall völlig unverständlich, wenn noch Abfindungs-und Bonusforderungen an den Konzern gestellt würden.

Taugt der Skandal als Beleg für die These, dass die Autolobby zu viel Einfluss in Europa hat?

Schulz: Ich habe die Gesetzgebung über die CO2-Grenzwerte sehr intensiv begleitet, und ich kann Ihnen sagen: Noch nie ist der Schadstoffausstoß von Fahrzeugen so drastisch gesenkt worden. Es gibt selbstverständlich Lobbyismus in Brüssel, sowohl von Industrie- als auch von Umweltseite. Das ist etwas ganz Normales. Am Ende des Gesetzgebungsprozesses zu den CO2-Grenzwerten hat sich allerdings gezeigt, dass keine Seite wirklich zufrieden war. Das ist für mich ein Indiz, dass wir einen realistischen Kompromiss gefunden haben. Die Behauptung, die Autolobby hätte sich einseitig durchgesetzt, ist jedenfalls nicht zu halten.

In Brüssel erzählt man sich, Kanzlerin Merkel persönlich habe eine schärfere Regulierung verhindert.

Schulz: Das ist Unsinn! Es gibt keinerlei Hinweise, dass die deutsche Regierung sich unverhältnismäßig verhalten hätte.

Jedenfalls gibt es deutsche Europaabgeordnete, die sich Formulierungshilfe von der Industrie holen, wenn sie Gesetzesvorlagen schreiben ...

Schulz: Jeder einzelne Abgeordnete muss wissen, was er tut und wo er sich seine Anregungen besorgt. Wer dem Europaparlament angehört, ist gut ausgestattet und kann auf genügend Ressourcen zurückgreifen, um Gesetzesvorschläge selbst zu formulieren. Abgeordnete müssen sich keine Vorlagen von Unternehmen oder Verbänden schreiben lassen. Mitglieder des Europäischen Parlaments haben die Pflicht, selbst zu arbeiten. Die allermeisten tun dies auch, und zwar sehr hart und gewissenhaft.

Die Affäre um gefälschte Abgaswerte erscheint beinahe als Randnotiz, wenn man sie mit der Herausforderung des Flüchtlingszustroms vergleicht. Welche Lastenteilung in Europa erscheint Ihnen gerecht?

Schulz: Wir haben 28 Länder mit 507 Millionen Einwohnern. Gemeinsam schaffen wir das. Aber wenn nur vier oder fünf Länder die Lasten tragen, bekommen wir ein Problem. Wir brauchen ein verbindliches Quotensystem, das sich an der Einwohnerzahl, dem Bruttoinlandsprodukt, der Arbeitslosenzahl und den bereits aufgenommenen Flüchtlingen orientiert.

Reicht dafür die Solidarität? Einige Mitgliedsstaaten scheinen die EU mit einem Geldautomaten zu verwechseln ...

Schulz: Das ist sehr überspitzt formuliert. Klar ist aber, dass Solidarität keine Einbahnstraße ist. Wenn die große Mehrheit einen europäischen Verteilungsschlüssel akzeptiert, und das zeigt sich ja auch, bekommen wir die Krise in den Griff.

Flüchtlinge müssten von den Außengrenzen der EU in Länder gebracht werden, in die sie gar nicht wollen.

Schulz: Wir müssen dem einzelnen Flüchtling erklären, dass die Schutzstandards in allen Mitgliedsstaaten gut sind. Ein EU-Verteilungsschlüssel heißt dann auch: Wer nach Europa kommt, erhält Schutz, hat aber keinen Anspruch auf ein Land seiner Wahl.

Was bedeutet die Krise für die europäischen Schuldenregeln? Wird der Stabilitätspakt aufgeweicht?

Schulz: Die Flüchtlingsbewegungen sind ohne Zweifel besondere Lasten, wie sie im Maastrichter Vertrag genannt werden. Sie müssen gegebenenfalls bei den Defizitkriterien berücksichtigt werden. Die EU-Kommission prüft das derzeit. Angesichts der enormen Belastungen, die einzelne EU-Länder in der Flüchtlingskrise schultern, können wir nicht so tun, als sei alles im Normalzustand.

Aus Afghanistan droht die nächste Flüchtlingswelle. Ist es da zu verantworten, die Bundeswehr jetzt vom Hindukusch abzuziehen?

Schulz: Die Erfolge der vergangenen 14 Jahre militärischer Präsenz in Afghanistan sind begrenzt, aber der Einsatz war nicht umsonst. Der Weg, die zivilen Kräfte so stark wie möglich zu machen, ist ohne Alternative.

Bedeutet für den Bundeswehrabzug?

Schulz: Die Beurteilung der Sicherheitslage in Afghanistan erfolgt im Rahmen des internationalen Mandats. Im Augenblick wird gekämpft. Der Aufbau einer schlagkräftigen afghanischen Armee mit internationaler Hilfe braucht möglicherweise mehr Zeit. Die Lösung wird allerdings nicht darin bestehen, dass dauerhaft fremdes Militär in Afghanistan steht.

Gilt der Satz des früheren deutschen Verteidigungsministers Peter Struck (SPD) noch, die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland werde auch am Hindukusch verteidigt?

Schulz: Der Satz ist heute so richtig wie damals. Ich würde ihn noch erweitern: Auch am Hindukusch wird die Sicherheit Europas verteidigt.