Berlin . Der Angriff auf Kundus zeigt: Die Taliban gewinnen an Stärke. Sieben Gründe, warum das Land keinen Frieden findet

Über Monate war der Krieg in Afghanistan aus dem Blickfeld der Europäer verschwunden – ein fast vergessener Konflikt. Mit dem Angriff der Taliban auf Kundus ist er zurück in der Weltpolitik. Vergangene Woche überrannten die Islamisten die Metropole im Norden, ein militärischer Erfolg, der auch die Schwäche afghanischer Sicherheitskräfte offenbart. Erst mithilfe der US-Truppen wurden die Taliban zurückgeschlagen. Dabei kam es offenbar zu einem schwerwiegenden Fehler. Amerikanische Kampfjets bombardierten versehentlich ein Krankenhaus der Organisation Ärzte ohne Grenzen, mindestens 19 Menschen starben. US-Präsident Obama sprach von einer „Tragödie“. Die USA wollen den Angriff nun untersuchen. Der Kampf um Kundus zeigt: Afghanistan findet keinen Frieden. Dafür gibt es Gründe, manche liegen weit zurück.

1 Wer verstehen will, warum das Land am Hindukusch von Konflikten zerrissen ist, muss zurückgehen bis in die Zeit des Kolonialismus. Für die Großmacht England war die Region von Afghanistan ein wichtiger Puffer zwischen dem besetzen Indien und dem feindlichen russischen Zarenreich, das seinen Einfluss in der Region ausweitete. 1842 marschierte die britische Armee in dem Land ein, mehrfach kam es zu Kriegen gegen afghanische Emire. 1893 legten Briten eine Grenze fest, die mitten durch das Gebiet der Paschtunen führte. Mit Absicht – um Gegenwehr der Stämme zu schwächen. Die Grenzlinie ignorierte die Unterschiede von Volksgruppen wie Paschtunen, Hazara oder Tadschiken. Bis heute erschwert Grenzwillkür die Lösung von Konflikten. Vor allem Paschtunen kämpfen heute für die Taliban.

2 Als die Nato nach den Anschlägen von New York 2001 gegen die Taliban in den Krieg zog, habe sie genau diese ethnische DNA am Hindukusch unterschätzt, sagen Politikwissenschaftler heute. Statt einer nationalen Identität und einer Demokratie, die von der Hauptstadt in die Regionen getragen wird, spielen lokale Warlords weiter eine zentrale Rolle. Sie herrschen über eigene Milizen, führen Geschäfte, genießen oft mehr Vertrauen bei den Einheimischen als die Politiker im fernen Kabul. Einige Warlords stehen bis heute sogar in Konkurrenz zur Regierung.

3 Korruption untergräbt Frieden und Demokratieaufbau. Während die militärischen Erfolge der Nato und der afghanischen Armee zeitweise groß waren, gelang es nie, im gleichen Maß Kriminalität und Vetternwirtschaft einzudämmen. Laut afghanischer Zentralbank sollen 2011 am Kabuler Flughafen allein an offiziell deklarierten Geldern 4,5 Milliarden US-Dollar außer Landes geschafft worden sein. Nicht immer hemme Korruption auch Friedenssicherung, sagen Experten. Doch kommen Hilfsgelder bei den Menschen nicht an, wächst die Wut auf die Regierenden.

4 Eine stabile Wirtschaft zählt als Säule für Frieden. Doch Afghanistans Wirtschaft ist abhängig von Geld aus dem Westen. Stromleitungen und allein 12.000 Kilometer Straßen wurden damit gebaut, auch etliche Brücken und Schulen. Viele Mädchen besuchen wieder regelmäßig den Unterricht – die Taliban hatten das unterdrückt. Es dürften mehr als 500 Milliarden Dollar sein, die der Westen bis Ende 2014 investiert hat. Schon jetzt spüren viele Afghanen den Einbruch des Marktes durch den Abzug vieler Soldaten und Helfer. Eigene weltmarktfähige Produkte erzeugt das Land kaum. Es fehlt eine Mittelschicht, die Unternehmen und Innovation vorantreibt. Was blüht, ist das illegale Geschäft mit Opiumanbau.

5 Wer vom Krieg in Afghanistan spricht, darf nicht 2001 mit dem Angriff der Alliierten gegen die Taliban beginnen. Schon 1979 marschierte die Sowjetunion ein, weil sie den Widerstand gegen die neue kommunistische Regierung niederschießen wollte. Mithilfe der Amerikaner siegten die Mudschahedin Ende der Achtziger gegen die Sowjets. In Afghanistan lief der Kalte Krieg heiß. Dann kam die Gewalt der Taliban. Schon mehr als 30 Jahre leiden die Menschen unter Gewalt. Generationen sind traumatisiert, vielen fehlt der Glaube an Frieden. Tausende Menschen mit Ehrgeiz und Sehnsucht nach Sicherheit sind geflohen.

6 Der Konflikt endet nicht an der af- ghanischen Grenze. Immer wieder wurden seit 2001 Vorwürfe vonseiten der afghanischen Regierung, aber auch der Nato laut, dass Pakistan die Taliban unterstütze. Der Geheimdienst des Nachbarstaats soll ein enges Netz zu den Islamisten pflegen. Bis zu den Anschlägen von New York gehörte Pakistan zu den wenigen Ländern, die die Taliban-Regierung diplomatisch anerkannten. Misstrauen belastet die Nachbarschaft. Doch zuletzt trat Pakistan als Vermittler für einen Dialog zwischen afghanischer Regierung und Taliban auf. Das weckte Hoffnung auf Frieden, die nun durch Gewalt bedroht ist.


7 Afghanische Polizisten und Sol- daten haben seit 2015 die Hoheit über die Sicherheitslage übernommen. Die Souveränität von Armee und Polizei ist wichtig, doch der Rückzug der Nato-Truppen kam zu früh. Die Taliban konnten Gebiete erobern – und nur dank US-Luftangriffen wieder vertrieben werden. Afghanistans Armee kann mit der Ausrüstung der Nato-Kräfte nicht mithalten, die Ausbildung neuer Soldaten ist kurz, Nachwuchs fehlt mancherorts. Es ist eine Sicherheitslücke entstanden. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) hat bereits vor einem überstürzten Abzug gewarnt. Eigentlich sollten die letzten deutschen Soldaten 2016 abziehen. Jetzt plant Schwarz-Rot laut Medienberichten, das Mandat zu verlängern. Wie wirkungsvoll das sein wird, hängt aber vor allem von den USA ab, die den größten Teil der Afghanistan-Truppe stellen. Diese Woche beraten die Nato-Verteidigungsminister in Brüssel, wie es weitergehen soll. Durch den permanenten Ausnahmezustand hat sich Gewalt in die DNA der afghanischen Gesellschaft eingeschrieben.