Belgrad.

Es ist der heißeste September seit Menschengedenken in Serbien. Ganz im Norden, in der Vojvodina, brennt die Sonne auf die 650 Meter lange Autobrücke über die Donau. Drüben liegt Kroatien. Die Luft wabert über dem Beton, wie bunte Pilze sitzen winzige Zelte auf der Brücke.

In den meisten von ihnen hausen ganze Familien. Es sind Hunderte Flüchtlinge, viele aus Syrien, aber auch aus Afghanistan, Eritrea und anderen Elendsregionen. Von der serbischen Stadt Bezdan aus wollten sie ins kroatische Batina hinüber, in den sicheren Schengen-Raum. Doch die Kroaten haben die Brücke dichtgemacht; zurück wollen die Menschen aber nicht. Mitten in Europa ist plötzlich ein Stück Niemandsland entstanden.

Eine absurde, eine dramatische Szene von so vielen irritierenden Szenen in diesen Tagen. Grenzen öffnen sich scheinbar wahllos und schließen sich wieder. Flüchtlinge werden mit Bussen kreuz und quer durch Balkanländer zur Nachbargrenze gefahren, nur weil diese Länder sie nicht aufnehmen wollen. Und wenn es überhaupt Züge nach Norden gibt, dann drängen Flüchtlinge hinein – durch die Türen natürlich, aber auch durch die Fenster. Sie wollen nach Österreich, nach Deutschland und noch weiter. Um jeden Preis.

Mitten auf der abgesperrten Donaubrücke zwischen Serbien und Kroatien wohnen Hussein und Ghada Alali aus Syrien, sie haben ihre zwei und drei Jahre alten Kinder dabei. Die Familie hat ein Zelt von nur drei Quadratmeter Grundfläche. Hussein zeigt eine abgelaufene Aufenthaltsgenehmigung für Deutschland; er hatte seine Familie nachholen wollen. Jetzt sitzt er hoch über der träge fließenden Donau fest.

Der Europaabgeordnete Knut Fleckenstein (SPD) ist zu Besuch in Serbien. Als Vizechef der Fraktion der sozialdemokratischen Parteien im EU-Parlament hat er auch einen Termin bei Ministerpräsident Aleksandar Vučić bekommen. Nicht viele Politiker machen sich in diesen Tagen selbst einen Eindruck von der Lage vor Ort. Fleckenstein ist zugleich Bundesvorsitzender des deutschen Arbeiter-Samariterbundes (ASB), der Helfer nach Serbien geschickt hat. Jetzt geht er auf der Brücke von Zelt zu Zelt.

„Die EU wird dieses hässliche Gesicht nicht immer tragen“

Zwei 15 und 16 Jahre alte Jungen aus Syrien kauern ohne Schutz auf dem Beton der Fahrbahn. Ihre Eltern sind ums Leben gekommen. Ein anderer Junge, der 16-jährige Hassan aus Ägypten, will wie die meisten hier nach Deutschland. Seit 35 Tagen sucht er nach einem Weg aus Serbien heraus. „In Ägypten droht mir der Tod“, sagt er und starrt apathisch zu Boden. Ein junges Paar aus Eritrea fragt immer wieder wie unter Zwang, wann endlich die Grenze wieder aufgehe. Hilflos und ziellos wandern Gruppen von Flüchtlingen auf der Brücke hin und her.

Die Begegnungen mit den Verzweifelten bewegen den Politiker. „Ich will sie am liebsten in den Arm nehmen und ihnen sagen: Habt noch etwas Geduld; die EU wird dieses hässliche Gesicht nicht immer tragen“, sagt Fleckenstein.

Eine halbe Million Euro hat der ASB mit Hilfe der Bundesregierung bisher in Serbien eingesetzt. Mit dem Geld wird in Subotica eine Investitionsruine in Rekordzeit in ein Winterquartier für Flüchtlinge umgebaut, werden die Menschen im Auffanglager Kanjiza und auf Plätzen in Belgrad, wo Hunderte auf blankem Boden hausen, mit dem Nötigsten versorgt.

Der SPD-Politiker legt 500 Kilometer an einem Tag zurück, um sich ein Bild von der Lage in Serbien zu machen. Im Lager Kanjiza, im Nordosten der Vojvodina, hofft der 23-jährige Afghane Reza aus Baghlan, nach Deutschland reisen zu können. Arzt will er werden. Über den Iran und die Türkei hat er es bis nach Serbien geschafft. Geholfen hat ihm ein Zettel mit der Reiseroute. Rund 1000 Menschen kann das Zeltlager fassen; mehrere Tausend haben hier bereits Station gemacht – auf dem Weg zu ihren Sehnsuchtsorten wie Deutschland. Der 58 Jahre alte Ingenieur Safar hilft den Menschen ehrenamtlich, übersetzt ihre Nöte aus dem Arabischen ins Serbische. Vor Jahren ist er selbst vor dem Krieg im Irak geflohen. Der Bürgermeister und Serbiens Sozialminister Aleksandar Vulin sind gekommen. Er fürchte um den „europäischen Geist“, sagt Vulin dem Gast aus Deutschland.

Nicht weit entfernt von Kanjiza, an der Straße zwischen Subotica und Horgos, haben sich Hunderte Flüchtlinge, vor allem Syrer, Pakistaner und Afghanen, vor der brütenden Hitze in den Schatten geflüchtet. Ermattet liegen sie auf dem Boden. Es ist ein Waldstück, das berüchtigt ist als „der Dschungel“.

Die hygienischen Zustände hier sind katastrophal. Es wimmelt von Schlangen und Ratten; am Boden droht zerbrochenes Glas. Der „Dschungel“ ist auch ein Treffpunkt für Schleuser. Die ungarische Grenze ist fast in Sichtweite; und unter den Entwurzelten hat sich irgendwie das Gerücht verbreitet, es werde bald ein Bus kommen und sie nach Ungarn bringen. Helfer des ASB, die Wasser und Lebensmittel bringen, konfrontieren die Menschen mit der bitteren Wahrheit: Der Bus wird nicht kommen. Eine junge Syrerin schlägt erschrocken die Hand vor den Mund. Auf dem Arm, eingehüllt in ein weißes Tuch, trägt sie ein winziges, zehn Tage altes Baby. Es wurde auf der Flucht geboren. Ihre etwa fünfjährige Tochter klammert sich an den Rock der Mutter – sie hat Angst, verloren zu gehen.

Ungarn öffnet am Sonntag wiedereinen Grenzübergang bei Röszke

Belgrad, gut 200 Kilometer von der Autobahnbrücke zu Kroatien entfernt. EU-Politiker Fleckenstein hat noch einen Termin mit dem serbischen Regierungschef Aleksandar Vučić. Dieser bedankt sich für die deutsche Hilfe, verhehlt aber seinen Unmut über die Haltung seiner Nachbarstaaten nicht. Es ist Europa verkehrt: Serbien, der ehemalige Paria, verhält sich zum Teil mitfühlender als manche EU-Staaten. 150.000 Flüchtlinge hat das Land bislang aufgenommen; 85 Prozent von ihnen wurden erkennungsdienstlich registriert. Andere Staaten aber interessierten sich nicht für die Daten, sagt Vučić.

Und auch diese Szene gehört zu diesem Wochenende: Nach massiver Kritik hat Ungarn den Grenzübergang Horgos-Röszke 1 wieder geöffnet. Die Bedingungen dafür seien in Verhandlungen mit Serbien erfüllt worden, sagte Ungarns Innenminister im Beisein seines serbischen Kollegen. Die Flüchtlinge strömen weiter nach Norden.