Berlin. Kanzlerin spielt die Bedeutung der Grenzkontrollen herunter, die Entscheidung fiel Merkel schwer. Dabei rechnet der Vizekanzler mit 1 Million Flüchtlinge

Am Tag danach versucht die Kanzlerin, die Aufregung über die Zäsur in der Flüchtlingspolitik zu dämpfen. „Es bleibt dabei: Wir schaffen das“, lässt Angela Merkel gestern Mittag versichern. Kehrtwende? Auf keinen Fall, Deutschland werde seine humanitären Pflichten weiter erfüllen, sagt ihr Sprecher Steffen Seibert.

Doch der Beruhigungsversuch läuft ins Leere. Die Entscheidung der Bundesregierung, vorübergehend wieder Grenzkontrollen einzuführen, hat europaweit Aufsehen erregt und auch innenpolitisch den Druck erhöht.

Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) spricht erstmals öffentlich aus, was alle Experten ahnen: In diesem Jahr werden nicht 800.000 Flüchtlinge nach Deutschland kommen, sondern vermutlich eine Million, schreibt Gabriel in einem Brief an die Parteimitglieder, der dem Abendblatt vorliegt.

Wie dramatisch die Lage wirklich ist, macht schon der geänderte Terminplan deutlich: Eine Kabinettsklausur, die sich am Dienstag und Mittwoch eigentlich mit der Digitalisierungspolitik befassen soll, ist abgesagt. Stattdessen empfangen Merkel und die zuständigen Minister heute den österreichischen Kanzler Werner Faymann. Gleich danach trifft sich das Kabinett zu einer Flüchtlingssondersitzung, am Abend hat Merkel die Ministerpräsidenten zu einem eilig einberufenen Bund-Länder-Gipfel geladen.

Längst ist klar, dass der Bund angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen nachlegen muss, vor allem finanziell. Die erst letzte Woche beschlossene Hilfe des Bundes für die Länder von 3 Milliarden Euro im nächsten Jahr reicht nicht – die Ministerpräsidenten fordern „mindestens eine Verdopplung“, wie Horst Seehofer (CSU) sagt. Der Bund soll zudem die Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Deutschlands besser organisieren.

Unklar ist noch, wie groß der Beitrag der Bundeswehr aussehen wird. Sie muss warten, bis sie um Amtshilfe gebeten wird. 4000 Soldaten hatte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) am Wochenende in Bereitschaft versetzt, nur 700 wurden gebraucht. Stärker gefragt ist Materialhilfe: 20.000 Feldbetten hat die Bundeswehr schon bereitgestellt, Zelte, Decken, Feldküchen. Es sei, sagt von der Leyen, „noch Luft nach oben.“ Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) mahnt schon: „Der Bund muss seine Verantwortung besser wahrnehmen und sich enger mit den Ländern abstimmen“. Über die vorübergehenden Grenzkon­trollen immerhin waren die Länder vorab informiert, einhellig gab es Zustimmung für die „Atempause“.

Doch für Merkel war es in Wahrheit eine erzwungene Kurswende. Die Kanzlerin rang mit sich selbst. Ihr Unbehagen war noch am Tag danach im CDU-Vorstand spürbar. Als Ingbert Liebig, der Chef der kommunalpolitischen Vereinigung der CDU, Bürgermeister mit ihren Klagen zitierte – „Wir schaffen es nicht“ – rief Merkel dazwischen: „Dann müssen wir es eben anders machen“. Und auf den Einwand, man könne nicht alle aufnehmen, die andere EU-Länder nicht haben wollten, warf Merkel ein, so einfach sei das nicht. Höchstrichterlich sei ihrer Regierung untersagt, Leute etwa nach Griechenland abzuschieben, weil die Zustände unzumutbar seien.

Merkel redete wenig, überließ das Wort Innenminister Thomas de Maizière (CDU). Der hatte auf schärfere Maßnahmen gedrängt, „um ein Zeichen zu setzen“ – vor allem gegenüber Österreich, das zuletzt die Flüchtlinge nach Deutschland weitergeleitet hatte. Am Donnerstagabend hatten die Innenminister der Länder in einer Schaltkonferenz „SOS“ gefunkt, auch die Bundespolizei stimmte in den Chor ein. Am Freitag nahm die Idee, die Grenzen wieder zu kontrollieren, Konturen an. Die Entscheidung traf Merkel am Sonnabend unter dem Eindruck der Lage in München.

SPD-Chef Sigmar Gabriel war eingebunden, vehement verteidigte er gestern die Entscheidung – auch gegen den Protest von SPD-Linken, die darin einen „Angriff auf die Flüchtlinge“ sehen, und gegen die Kritik der Opposition, die von einer „gefährlichen Hauruckaktion“ spricht.

Gabriel mahnt aber auch, die Flüchtlinge bräuchten in Ländern wie Jordanien, Libanon, Irak oder Türkei in den nächsten Wochen weit entschiedenere Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, auch von den USA und den arabischen Golfstaaten.

Grenzkontrollen werden wohl ausgeweitet und Wochen dauern

Doch erst mal ist jetzt die Bundespolizei an der Reihe: Mehrere Tausend Beamte sollen nach und nach für die Grenzkontrollen eingesetzt werden. Sie patrouillieren an der grünen Grenze, überprüfen Reisende im Straßen- und Bahnverkehr. Schwerpunkt der Kon­trollen ist zwar bislang Österreich. Schon in den ersten Stunden deckte die Polizei auf den bekannten Routen 15 Großschleusungen auf.

Doch Bund und Länder stellen sich längst darauf ein, dass Schleuser jetzt Ausweichrouten über Tschechien oder Polen nutzen – und bereiten Kontrollen deshalb auch entlang dieser Grenzen vor. An den Grenzübergängen im Südwesten hat die Polizei ihre Präsenz ebenfalls erhöht. Ein rasches Ende ist nicht absehbar: Die Kontrollen würden mindestens noch mehrere Wochen dauern, erklärte der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU)