Freilassing/Salzburg.

Er will weiter, aber das geht nicht, noch nicht. Ali Achmid aus Bagdad steht mit anderen Flüchtlingen hinter einem rot-weißen Absperrband auf Gleis eins vom Bahnhof Freilassing im oberbayerischen Landkreis Berchtesgadener Land. Bundespolizisten haben ihn aus dem IC 218 geholt, der von Graz nach Frankfurt am Main fährt. Und Achmid weiß nicht warum. Man kann doch einfach bis München reisen, hat er gehört. Geht das denn jetzt nicht mehr?

Achmid kann sich nicht ausweisen. Sein Pass sei bei seinen Eltern im Irak, sagt er, und seine Tasche mit Geld und Papieren habe er vor Kurzem verloren. Er fragt: „Was passiert jetzt mit uns?“ Er bittet den Reporter: Bitte frag die Polizisten, was sie mit uns machen?

Die Polizisten wissen das aber selbst noch nicht. Dann eine andere Frage: Wie viele Flüchtlinge sind gerade hier aus dem Zug geholt worden? Ludger Otto, Einsatzleiter der Bundespolizei, atmet laut aus und sagt: „Kann ich im Moment gar nicht genau sagen.“

Die Ankündigung von Bundesinnenminister Thomas de Maizière vom späten Sonntagnachmittag hat viel verändert – und ein bisschen Chaos angerichtet. Die Bundesrepublik kontrolliert wieder ihre Grenzen, das Schengen-Abkommen wird zeitweise außer Kraft gesetzt, sagte der CDU-Politiker. Es war wie ein Eingeständnis: Deutschland kann die Flüchtlinge nicht mehr aufnehmen. Es sind zu viele.

Dem Schengener Abkommen von 1985 gehören 26 Länder mit 400 Millionen Menschen an. Neben 22 EU-Staaten sind dies auch Norwegen, Island, die Schweiz und Liechtenstein. Schengen steht für grenzenloses Reisen in Europa. Auch andere europäische Länder folgten de Maizières Vorstoß: Die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner kündigte gestern temporäre Grenzkontrollen an. Man wolle an der Grenze zu Ungarn beginnen. Die Slowakei kehrte zu Kontrollen an ihren Grenzen nach Ungarn und nach Österreich zurück. Auch die Niederlande wollen ihre Grenzkontrollen verschärfen. Die tschechischen Behörden schickten 200 zusätzliche Polizisten an die Grenze zu Österreich. Auch an der deutsch-tschechischen Grenze soll es wieder Kontrollen geben. Noch in der vergangenen Woche fuhren Zehntausende Flüchtlinge in Zügen von Budapest nach München. Nach de Maizières Ankündigung fuhren keine Züge mehr, 950 Menschen schliefen in der Tiefgarage des Salzburger Hauptbahnhofs. Am Montagmorgen dann: Es fahren doch wieder Züge.

Ingenieur Ali Achmid ist seit zweiWochen auf der Flucht aus dem Irak

Es ist kurz nach halb elf Uhr, und der IC ist der erste Zug aus Österreich, der heute in Freilassing stoppt. Acht bis zehn Züge pro Stunde halten zu den Stoßzeiten hier. Der kleine Grenzort bei Salzburg wird nach der Wiedereinführung der Grenzkontrollen zu einem Ende der Balkanroute.

Ali Achmid ist vor zwei Wochen aus dem Irak geflohen. Zuerst der Flug nach Istanbul, dann mit dem Boot nach Griechenland, weiter ging es mit Bussen und Zügen bis nach Deutschland. Er lernte Englisch an der Universität. Im Irak hat er als Ingenieur in der Ölindustrie gearbeitet. Der 26-Jährige will Deutsch lernen und hier arbeiten.

Ein paar Meter weiter fragt ein Mann aus dem Kosovo einen Polizisten: „Germany?“ Ob er in Deutschland sei? „Ja“, sagt der Polizist. „Name?“ Freilassing. Ein anderer Polizist erklärt, dass jetzt „gut und gerne 300“ Menschen auf Gleis eins stehen. Ein Kind, sechs Jahre alt, habe sich übergeben. Magenverstimmung oder so, sagt der Polizist, es sei schon auf dem Weg in die Klinik. Man wolle die Flüchtlinge menschenwürdig aufnehmen. Gleich sollen Wasser und Brötchen kommen.

Jürgen Schneider, ein Lkw-Fahrer, lässt sich von einem Taxi zur Grenze bringen, er soll dort einen Kollegen ablösen. „Das wird ein böses Ende haben“, sagt er. „Da kommt ein ganzer Schwarm. Wie eine Heuschreckenplage.“ Das habe er sich nicht ausgedacht, sagt Schneider, er zitiere nur den britischen Premierminister David Cameron. Die Flüchtlinge könnten nichts dafür. „Europa wird zum Teufel gehen.“

Wenn man von Freilassing nach Salzburg mit dem Auto fährt, führt die Saalach-Brücke in die Stadt Salzburg. Heute staut sich der Verkehr von Salzburg nach Freilassing. Die linke Fahrbahn ist gesperrt. Beamte der Bundespolizei kontrollieren Lkws und Kleinlaster, winken sie raus. Die Fahrer müssen die Türen öffnen, die Polizisten klettern in die Wagen. Sie suchen nach Schleusern. Am frühen Morgen haben sie einen erwischt.

Derrick Pieper Bardales hat 40 Minuten im Stau gestanden. Er fährt in seinem Bus, aus dem er peruanisches Essen verkauft, nach Stuttgart. Er zeigt den Polizisten seinen Pass. „Es ist gut, dass der Staat das so entschieden hat“, sagt er. Es sei schon ein Zeitverlust. „Aber was soll man machen.“ Am Nachmittag werden hier Flüchtlinge zu Fuß über die Grenze kommen.

Am Bahnhof in Freilassing steigen die Menschen in Busse. Sie werden zu einer Registrierungsstelle gefahren, die Polizei eskortiert mit Blaulicht. Schlafen sollen sie in der Turnhalle von Freilassing. Ali Achmid steht noch hinter der Absperrung, er muss auf den nächsten Bus warten. Man kann jetzt nicht mehr mit ihm reden, die Polizisten lassen ihn nicht durch. Sie haben Verstärkung aus Hamburg bekommen. Die Bundespolizisten waren am Sonntag noch bei einer rechten Demo am Hauptbahnhof im Einsatz. Dann ging es in den Süden. 90 Polizisten setzten sich in die Gruppenfahrzeuge und fuhren neun Stunden durch. Wo sie heute übernachten, wissen sie noch nicht. Schwierig sei das mit 90 Mann. Es könnte auch eine Turnhalle werden.

Ständig wechselnde Regeln am Bahnhof in Salzburg

Die Flüchtlinge stehen auf dem Bahnsteig. Babys schreien. Machmud Nashif, 30, aus Damaskus kehrt Wasserflaschen, Plastikfolie und Kippen zusammen. Als würde er einen guten ersten Eindruck machen wollen. Dabei möchte er gar nicht in Deutschland bleiben. Sein Ziel ist Schweden. Als man ihm sagt, dass das wahrscheinlich nicht möglich ist, schaut er ernst.

Auf der anderen Seite der Grenze, am Nachmittag am Salzburger Hauptbahnhof. Auf einer Anzeigentafel steht eine „Sonderinformation“: „Deutschland hat den Zugverkehr von Österreich nach Deutschland über Freilassing gestoppt. Die Weiterbeförderung ist mit Zügen nicht mehr möglich.“ Am Vormittag fuhren die Züge noch, jetzt wieder nicht. Stündlich ändern sich an der Grenze die Regeln. Die Deutschen scheinen sich nicht sicher zu sein, welche Strategie denn nun die beste ist.