Berlin. Erst der Kälteeinbruch wird viele Asylsuchende abhalten, so das Flüchtlingshilfswerk. Tragödie im Mittelmeer: 28 Tote, darunter 14 Kinder

Chaotische Szenen an den Grenzen, gesperrte Zugverbindungen und täglich Zehntausende von Neuankömmlingen. Eine Woche nachdem Deutschland den Flüchtlingen aus Ungarn die Tür geöffnet hat, ist kein Ende des Zustroms in Sicht. Flüchtlingsexperten rechnen damit, dass die Zuwanderungswelle weiter anhalten wird – über die Balkanroute, aber auch über das Mittelmeer.

Nun kam es vor der griechischen Insel Farmakonisi zu einer weiteren Flüchtlingstragödie. Nach dem Kentern eines Flüchtlingsboots entdeckte die Küstenwache 28 Leichen, 14 davon Kinder, darunter vier Säuglinge. „Meine Kollegen finden immer mehr Menschen, die ertrunken sind“, sagte ein Offizier der Küstenwache. Die Rettungsmannschaften konnten 68 Menschen aus den Fluten retten. Zuvor waren zwei Boote vor Samos und Lesbos gekentert. Fünf Menschen werden noch vermisst.

„Es ist nicht zu erwarten, dass die Zahlen kurz- oder mittelfristig kleiner werden“, sagte Martin Rentsch vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) dieser Zeitung. Das UNHCR rechnet damit, dass sich die Lage zumindest vorübergehend entspannt, sobald das Wetter im Herbst deutlich schlechter wird. Die Flucht über den Balkan sei für Frauen, Kinder und ältere Menschen jetzt schon extrem anstrengend und gefährlich. Ein Kälteeinbruch mit Dauerregen setzte in den vergangenen Tagen Tausenden von Flüchtlingen in Serbien und Mazedonien zu. Im Herbst wird vor allem die Überfahrt von der Türkei nach Griechenland immer schwieriger. „Wir erwarten aber frühestens im Oktober, dass sich die Situation stabilisiert, dass weniger Menschen die Strapazen der Balkanroute auf sich nehmen.“ Bis dahin müsse man aber „weiter mit hohen Zahlen rechnen“, sagte UNHCR-Sprecher Rentsch.

Es liegt nicht nur an der humanitären Türöffnung der Kanzlerin und am deutschen Wohlfahrtssystem, dass ausgerechnet jetzt so viele Flüchtlinge unterwegs sind. Auch die Lage in Syrien und seinen Nachbarländern verschärft sich: „Die Sicherheitslage wird schlechter“, heißt es beim UNHCR. Der IS rückt vor, Angst und Gewalt regieren den Alltag, der Bürgerkrieg raubt immer mehr Menschen ihr Zuhause und ihre Existenzgrundlage. Arbeitslosigkeit und Inflation steigen rasant an, die syrische Währung hat 90 Prozent ihres Wertes eingebüßt. In vielen Teilen des Landes gibt es nur für wenige Stunden Strom, das Wasser ist knapp.

„Die Menschen versuchen zu entkommen“, so Rentsch. Beschleunigt wird die Fluchtdynamik von immer professioneller agierenden Schleppern und dem schnellen Informationsfluss in den sozialen Netzwerken. Mit Sorge schauen die UN-Experten aber auch auf die vier Millionen Syrer, die in den letzten Jahren in die Nachbarländer geflohen sind. „Kurzfristig muss man nicht mit einem Massenexodus rechnen“, heißt es beim Flüchtlingshilfswerk. Aber: „Einige tragen sich mit dem Gedanken, ihre Zelte abzubrechen und die Region Richtung Europa zu verlassen“, so Rentsch. „Je schlechter es den Menschen geht, desto mehr überlegen sie sich, wie sie die nächsten Monate überstehen werden.“

Rund vier Millionen syrische Flüchtlinge sind registriert

Laut UNHCR sind derzeit rund vier Millionen syrische Flüchtlinge in den Nachbarländern registriert. Die meisten hat die Türkei aufgenommen – 1,9 Millionen. Im Libanon leben 1,1 Millionen Flüchtlinge, in Jordanien 630.000, der Irak hat 250.000 aufgenommen, Ägypten 130.000. Rund 25.000 Menschen sind nach Nordafrika geflohen. In Jordanien werde die Lage für die rund 500.000 Syrer, die sich außerhalb der Flüchtlingslager befinden, immer aussichtsloser. 86 Prozent von ihnen leben nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Im Libanon sei die Situation ähnlich: Auch hier lebten rund 70 Prozent der syrischen Flüchtlinge unter der nationalen Armutsgrenze. Die Folgen: Flüchtlinge kaufen vermehrt Essen auf Kredit, nehmen ihre Kinder aus der Schule, damit sie betteln gehen können.