Budapest. Studenten verarzten die Menschen im Budapester Bahnhof. Ungarns Regierung kümmert sich nicht

Es gibt Erlebnisse, die verändern den eigenen Blick. So ergeht es der Medizinstudentin Anna Birr. Am Mittwoch steht die 25 Jahre alte Hamburgerin umringt von müden, kraftlosen Menschen in der Unterführung des Bahnhofs Keleti in Budapest, wo Tausende Flüchtlinge campieren, als eine Frau mit einem Baby auf sie zusteuert und ihr das Kind in die Arme drückt. Der Vater schiebt sich von der Seite heran und will Anna Geld geben. Die Frau weint und bettelt, sie solle das Kind mitnehmen; denn hier werde es es nicht mehr schaffen. Auch der Mann weint, und am Ende schießen dann Anna die Tränen in die Augen.

„Das war ein Schlüsselmoment“, erzählt die angehende Ärztin, die im zweiten Jahr an der Universität in Budapest studiert. An diesem Tag hatte sie mit einer Freundin selbst gekaufte Desinfektionstücher, Windeln und Verbandszeug unter den Flüchtlingen verteilt. Als sie ihr WG-Zimmer unweit des Bahnhofs betrat, setzte sie sich sofort an den Laptop und suchte auf Facebook nach Menschen, die helfen.

So stieß sie auf die Gruppe „Refugee Aid/Flüchtlingshilfe“, ein Zusammenschluss von deutschen Medizinstudenten in Budapest. Sie organisieren Kontrollgänge am Bahnhof Keleti, immer zu Dritt, je zwei Stunden. Eilig haben sie Schichtpläne entworfen, vermitteln Flüchtlinge an das einzige Ärzteteam am Ort. Und damit haben sie eine Lücke gefüllt. Denn die ungarische Regierung kümmert sich nicht um die medizinische Versorgung. Allein private Unterstützer und nichtstaatliche Organisationen helfen dort.

„Wir finanzieren uns in erster Linie über Spenden von Freunden und Familien und sind seit letztem Dienstag aktiv“, sagt Julian S., 26 Jahre alt, der die Schichten der Dreier-Teams organisiert. In Budapest studieren viele junge Deutsche Medizin, rund 760 Studenten. 25 von ihnen beteiligen sich am Projekt Refugee Aid und drehen abwechselnd ihre Runden. Das ist auch dringend nötig. „Es ist nun mal in Budapest nicht so, dass 300 Flüchtlinge irgendwo landen und sofort 500 freiwillige Helfer da sind“, sagt S. Im Gegenteil.

Am Freitag droht die Lage zu eskalieren. Um 22 Uhr beleuchten nur Straßenlaternen den Vorplatz des Ostbahnhofs. Rund 3000 Menschen lagern auf Isomatten und in Zelten in der Unterführung. Immer wieder strömen neue Gruppen aus den Nahverkehrsbussen und schlagen ihr Lager im Bahnhof auf. Nur wenige private Hilfsorganisationen sind vor Ort. Von den wenigen Dixi-Klos geht ein beißender Geruch aus. Seit zehn Uhr sind jeweils drei Studenten von Refugee Aid am Bahnhof und drehen ihre Runden.

Eine Medizinstudentin steht an einem der U-Bahn-Aufgänge, hinter ihr schiebt ein Arzt die Tür eines Krankenwagens zu. „Ich habe den Wagen gerufen, weil ich mir Sorgen um ein Kind von unten gemacht habe“, sagt die Studentin. Ihr sei der Junge aufgefallen, weil seine Augen stark gerötet gewesen seien und er sich ständig übergeben habe. „Dann hat sich herausgestellt, dass er seit vier Tagen nicht mehr richtig gegessen hat“, sagt die Deutsche. Ohne den Anruf wäre nichts geschehen.

Am Bahnhof sind mehr hochgerüstete Polizisten, die den Eingang absperren, und mehr Kamerateams von Fernsehstationen als Helfer, die sich um die entkräfteten Menschen kümmern – eine absurde und verstörende Szenerie. Ein Pfarrer, der Bonbons an Kinder verteilt, beklagt sich, dass weder das Deutsche Rote Kreuz noch das Technische Hilfswerk helfen. „Sobald es am anderen Ende der Welt eine Krise gibt, sind die Helfer in Windeseile dort. Und was geschieht, wenn es einmal innerhalb der EU brennt?“ Anna Birr ist mit zwei Kommilitonen unterwegs. Sie verteilen Desinfektionstücher, behandeln entzündete Wunden von Flüchtlingen, verteilen Ibuprofen. „Die Nacht von Donnerstag auf Freitag war die erste kalte. Viele sind erkältet und haben Halsschmerzen“, sagt sie.

Am späten Sonntagmittag entspannt sich die Lage am Bahnhof. Die meisten Flüchtlinge haben mit den von der Regierung gestellten Busse die Stadt verlassen. Doch es gehen schon wieder Gerüchte herum, dass erneut Tausende auf den Weg nach Budapest seien – zum Knotenpunkt Keleti. Für Anna geht diese Woche das Semester wieder los. Das Wochenende hat ihre Pläne kräftig durcheinander gewirbelt: „Einfach in der Sonne sitzen und Kaffee trinken, das geht nicht mehr.“