Berlin. Entsetzen nach der Flüchtlingstragödie in Österreich. Die Politik will entschlossener handeln, eine schnelle Lösung ist aber nicht in Sicht

Dietmar Seher

Sie kamen wohl aus Syrien, sie waren fast am Ziel, dann starben sie einen qualvollen Tod: Die Flüchtlinge, die in einem Schlepper-Lkw in Österreich tot aufgefunden wurden, sind sehr wahrscheinlich in dem Fahrzeug erstickt. Sie hätten noch versucht, sich aus dem Kühl-Lastwagen zu befreien, der Laderaum sei von innen ausgebeult und teilweise aufgeschlitzt gewesen, berichtete der Polizeichef des Burgenlandes, Hans Peter Doskozil. Seine Schilderungen übertrafen die schlimmsten Befürchtungen: 71 Leichen wurden aus dem 7,5-Tonner geborgen, vor allem Männer, aber auch acht Frauen und vier Kinder – anfangs war die Polizei von 20 bis 50 Toten ausgegangen. Sehr wahrscheinlich handelt es sich um Syrer, einige Reisedokumente weisen darauf hin.

Immerhin meldeten die Fahnder schnell erste Erfolge: In Ungarn sitzen seit gestern drei Männer in Untersuchungshaft, darunter die beiden mutmaßlichen Fahrer und ein Bulgare, auf den der Lkw zugelassen ist. Sie gehörten offenbar zum Umfeld eines bulgarisch-ungarischen Schlepperrings.

Als die furchtbaren Details gestern bekannt wurden, reagierte auch die Bundesregierung mit Entsetzen: „Ein solches Ausmaß an Leid lässt einen verstummen“, ließ Kanzlerin Angela Merkel (CDU) erklären. Die Schlepper seien „gewissenlose Geschäftemacher“, denen das Leben der Flüchtlinge wenig bedeute – jetzt müsse überlegt werden, wie man noch energischer gegen das Schlepperunwesen auf der Balkanroute vorgehen könne. Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) sagte, die Nachricht mache ihn „unendlich wütend“. Man müsse alles dafür tun, solchen Schleppern das Handwerk zu legen.

Doch wie das geschehen soll, ist bislang unklar. Ein wirksames Mittel gegen die skrupellosen Menschenschmuggler hat die Politik bisher nicht gefunden. Stattdessen erlebt Europa einen Boom des kriminellen, milliardenschweren Schleusergeschäfts: Deutschlandweit sind im ersten Halbjahr über 2000 Schleuser festgenommen worden – allein 1300 in Bayern. Im Freistaat sitzen 600 von ihnen in Untersuchungshaft, die Gefängnisse sind überfüllt, die Gerichte überfordert. Doch fast immer kriegt die Polizei nur die Fahrer zu fassen, ihre Auftraggeber bleiben meist ungeschoren. „Die festgenommen Schleuser kommen aus Ungarn, Bulgarien und Rumänien, sie sind in der Regel normale Bürger – mit Finanzproblemen“, sagt der Passauer Rechtsanwalt Marcus Ihle unserer Zeitung. Er hat als Pflichtverteidiger schon mehr als 30 Schleuser vor Gericht vertreten, er hat tiefe Einblick in das Gewerbe. Anfangs hätten die Fahrer noch hundert Euro pro Flüchtling erhalten – inzwischen würden für eine Tour von Budapest nach Passau nur 300 bis 400 Euro gezahlt. Doch angesichts der niedrigen Löhne in ihren Heimatländern sei die Versuchung dennoch groß, sagt der Anwalt.

Typisch sei der Fall seines Mandanten Lazlo P., der in Ungarn als Fitnesstrainer nicht genug verdiente, um als Bürge den Kredit seines Bruders abzubezahlen. Sein Arbeitgeber steckte ihm eine Telefonnummer, es meldete sich ein Schleuser. Auf was für ein Geschäft sie sich einließen, wüssten die Fahrer allerdings: „Die bekommen strikte Anweisungen: Sie sollen bloß nicht anhalten, keine Pause machen, sich nicht um die Flüchtlinge kümmern, schon gar nicht um deren Verpflegung“, berichtet Anwalt Ihle.

Das Risiko ist überschaubar: Die Höchststrafe für gewerbsmäßiges Schleusen liegt zwar bei zehn Jahren – doch solange nicht andere Straftaten hinzukommen, werden Schleuser wie Lazlo P., der siebenmal Flüchtlinge nach Deutschland brachte, zu Bewährungsstrafen verurteilt. Sein Richter erklärte, eine Teilschuld trage das völlige Versagen der Flüchtlingspolitik in Europa. Die Hintermänner werden fast nie erwischt.

„Es geht um einen florierenden Markt für kriminelle Organisationen“, heißt es in einer Studie des Bundesnachrichtendienstes (BND). Die Netzwerke sind auch im Waffen- und Drogenhandel aktiv, inzwischen sind in Deutschland selbst Banden, die sich auf Kupferdiebstahl spezialisiert hatten, auf das Schleusergeschäft umgestiegen. Auf drei Routen bringen sie die Flüchtlinge in die EU – über Polen und das Baltikum, über Ungarn und den Balkan und über das Mittelmeer. Im Durchschnitt kassieren die Organisationen für eine Schleusung etwa aus Syrien um die 5000 Euro, ein Alles-Inklusiv-Paket wird aber auch für 10.000 Euro und mehr angeboten. Wie eine professionell operierende Bande funktioniert, zeigt ein Fahndungserfolg, den die Bundespolizei gestern dem Abendblatt bestätigte: Bereits im April wurden die beiden Chefs eines Schleuserrings in Herne festgenommen. 600 syrische Flüchtlinge brachte die Gruppe über die Türkei, Bulgarien, Serbien und Österreich nach Passau, sechs Millionen Euro soll sie verdient haben, wie zuerst das ARD-Magazin Report berichtet hatte. Das Geschäft war straff organisiert und funktionierte wie ein „illegales Reisebüro“ mit perfekter Dienstleistung, die angeheuerten Fahrer arbeiteten wie im Pendeldienst – kaum war eine Flüchtlingsgruppe abgesetzt, wurde die nächste geholt.

Das Geschäftsmodell der Schleuser verspricht noch für längere Zeit Profite

„Der, der den Transport macht, verdient viel weniger als die Chefs, die das organisieren“, sagt Innenminister Thomas de Maizière (CDU). „Wir müssen mit Europol an diese Leute ran und deren Vermögen beschlagnahmen.“ Empfindlicher dürfte es die Schleuser aber treffen, wenn Flüchtlinge ihre Asylanträge nicht mehr in Deutschland selbst stellen müssten – sondern etwa in Anlaufzentren in Nordafrika oder an den EU-Außengrenzen in Italien oder Griechenland. De Maizière wirbt seit längerem dafür, auch die Gewerkschaft der Polizei: „Man würde so den Schleusern den Großteil ihres kriminellen und mitunter tödlichen Marktes entziehen“. Politisch durchsetzbar war es bisher nicht.

Entschlossener agieren Deutschland und die EU-Partner, wenn es um die gefährlichere Schleusung über das Mittelmeer geht: Im Mai hat die EU eine neue Marine-Operation gestartet, in deren erster Phase Informationen über die Aktivitäten der Schleuser gesammelt werden – die Bundeswehr ist mit zwei Schiffen und 300 Soldaten beteiligt. Eigentlich ist in Phase zwei geplant,

Schleuser-Schiffe zu suchen und zu beschlagnahmen, in Phase drei würden die Boote und Infrastruktur auch an Land zerstört. Doch die Bundesregierung ist skeptisch: Für den Einsatz von Gewalt wäre ein Uno-Mandat oder die Zustimmung der libyschen Behörden notwendig, beides ist nicht in Sicht. Vor allem Menschenrechtsorganisationen fordern indes, das wirksamste Mittel gegen die Schleuser sei, den Flüchtlingen legale Wege zu ermöglichen.

Kurzfristig ist das kaum realistisch. So verspricht das Geschäftsmodell der Schleuser noch für längere Zeit enorme Profite. Der Präsident der Bundespolizei, Dieter Romann, sagt: „Mit der Ware Mensch lässt sich zur Zeit mehr Kasse machen als mit Waffen und Drogen.“