Berlin. Merkel als „Volksverräterin“ bezeichnet: Strafbare Beleidigung oder erlaubte Ansichtssache?

Das verwackelte Video im Internet ist ein Dokument der Schamlosigkeit. Es zeigt die Situation vor dem Flüchtlingsheim im sächsischen Heidenau, als Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Mittwoch nach ihrem Besuch bei Asylbewerbern die Unterkunft wieder verlässt. Deutlich ist zu hören, wie die Regierungschefin auf dem Weg zu ihrem Dienstwagen von Demonstranten am Straßenrand in unflätiger Weise beschimpft wird. „Volksverräterin“ und „blöde Schlampe“ gehören dabei fast noch zu den harmloseren Vokabeln. Andere Beleidigungen sind nicht zitierbar. Dass nur einen Schritt weiter Polizeibeamte die wüsten Beschimpfungen gegen die Kanzlerin mitbekommen, scheint die Schreihälse in keiner Weise zu stören.

Heidenau markiert eine neue Qualität der rechtsradikalen und fremdenfeindlichen Hetze in der Republik. Der rechte Mob, so scheint es, entledigt sich auch der letzten Skrupel. „Diese politische Kultur des Hasses war fremd in der Bundesrepublik. Dass sie sich nun auf diese Weise auf der Straße artikuliert, ist neu“, befindet der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte von der Universität Duisburg-Essen. Zwar handle es sich um eine kleine Minderheit, die diesen Hass verbreite. „Aber“, so Korte, „es besteht immer die Gefahr, dass die Mehrheit beginnt, mit den Wölfen zu heulen.“

Deshalb sei es nun wichtig, dass die Bürgergesellschaft reagiere. Korte: „Sie darf sich nicht einschüchtern lassen und den Rechtsextremen die Öffentlichkeit überlassen. Die Bürger müssen genauso laut und genauso emotional dagegenhalten.“ Er hält es auch für richtig, dass SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel die gewalttätigen Randalierer von Heidenau bei seinem Besuch vor Ort als „Pack“ bezeichnete. Denn: „Mit philosophischen Diskursen kommt man da nicht weiter.“

Ähnlich sieht das der FDP-Vorsitzende Christian Lindner. „Es ist beschämend und völlig inakzeptabel, dass Rechtsextremisten und deren Mitläufer Mitmenschen auf Übelste anpöbeln und mit Hasstiraden überschütten“, sagte Lindner dem Abendblatt. Die Vorfälle in Heidenau seien „ein schlimmer Tiefpunkt“. Und weiter: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dieses Grundrecht gilt gleichermaßen für jeden Menschen – für höchste Repräsentanten unseres Landes ganz genauso wie für jeden Hilfsbedürftigen, der in unser Land kommt. Es ist Aufgabe aller demokratischen Kräfte, geschlossen gegen diese unerträgliche braune Hetze Flagge zu zeigen.“

Juristisch ist die Sache für Experten klar. „Der Begriff Volksverräterin erfüllt aus meiner Sicht eindeutig den Straftatbestand der Beleidigung“, sagt etwa der Berliner Strafrechtler Dr. Ali B. Norouzi. Denn: „Damit wird der Kanzlerin unterstellt, sie breche ihren Amtseid, der sie verpflichtet, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Das ist ein Angriff auf die Ehre der Person.“

Laut Strafgesetzbuch kann eine Beleidigung mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit einer Geldstrafe geahndet werden. Voraussetzung ist aber, dass der Betroffene Strafantrag stellt. Beleidigung ist ein sogenanntes Antragsdelikt – von sich aus kann die Staatsanwaltschaft nicht tätig werden. Eine Regierungssprecher erklärte, dass Angela Merkel keinen Strafantrag stellen werde. Wohl auch, um den Rechtsradikalen nicht die Gelegenheit für einen zusätzlichen Auftritt auf juristischer Bühne zu geben.

Strafbare Beleidigung oder erlaubte Meinungsäußerung – wo die Trennlinie verläuft, ist oft strittig. Für Aufsehen sorgte vor zwei Jahren ein Fall in Augsburg. Dort hatte die Polizei von einer Tageszeitung die Herausgabe der persönlichen Daten eines Online-Nutzers der Zeitung erzwungen; der Betroffene hatte in einem Forum des Blattes unter Pseudonym dem Ordnungsreferenten der Stadt „Rechtsbeugung“ vorgeworfen. Die Polizei fahndete nun nach dem richtigen Namen des Online-Nutzers. Das Landgericht Augsburg entschied später: Die Polizei hatte kein Recht auf Herausgabe der Daten, denn der Online-Kommentar ist keine Beleidigung, sondern stellt „lediglich eine subjektive Bewertung der Haltung des Ordnungsreferenten dar“. Und was ist, wenn Politiker selbst markige Worte wählen? So wie Sigmar Gabriel mit seinem „Pack“-Auftritt? Jurist Norouzi sieht hier keine Beleidigung. Und erst 2014 stärkte das Bundesverfassungsgericht in einem Grundsatzurteil die Politiker. Bundespräsident Joachim Gauck hatte kurz vor der letzten Bundestagswahl die NPD-Anhänger als „Spinner“ bezeichnet. Karlsruhe entschied, dass Gauck damit seine Kompetenzen nicht überschritten habe, wie die NPD fand.

Untereinander nehmen es Politikernicht so genau mit dem guten Ton

Zwar könne die Verwendung des Wortes „Spinner“ isoliert betrachtet diffamierend sein; Gauck habe es aber als Sammelbegriff für Menschen benutzt, „die die Geschichte nicht verstanden haben und, unbeeindruckt von den verheerenden Folgen des Nationalsozialismus, rechtsradikale Überzeugungen vertreten“.

Im Umgang untereinander nehmen es Politiker nicht so genau mit dem guten Ton. So schmähte etwa CSU-Mann Alexander Dobrindt den FDP-Politiker Wolfgang Kubicki als „politischen Quartalsspinner“, dem wohl „die Schweinegrippe aufs Gehirn geschlagen“ habe. Legendär ist der Zwischenruf Joschka Fischers 1984 im Bundestag. Als Parlamentspräsident Richard Stücklen den Grünen-Abgeordneten nach mehreren Störungen des Plenarsaals verwies, rief Fischer ihm zu: „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch.“ Zu einer Anzeige kam es in keinem der Fälle.