Wiesbaden. 2014 sind in Deutschland 715.000 Babys geboren worden – ein Rekord der vergangenen zehn Jahre. Experten sprechen dennoch nicht von einer Trendwende

Ist das eine Trendwende? Erstmals seit 2004 ist die Zahl der Geburten in Deutschland 2014 wieder über 700.000 geklettert. Wie das Statistische Bundesamt am Freitag in Wiesbaden mitteilte, wurden 2014 etwa 715.000 Kinder geboren. Außerdem schlossen 386.000 Paare den Bund fürs Leben – 12.000 Ehen mehr als im ­Vorjahr. Zugleich sank die Zahl der Todesfälle um 2,8 Prozent auf 868.000 Menschen.

Für Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) ist der Anstieg der Geburten „ein schönes Signal“. Natürlich nutzte sie die Zahlen auch für ein verstecktes Selbstlob: „Wir müssen uns weiterhin anstrengen, Familien in Deutschland gut zu unterstützen.“

Beim Statistischen Bundesamt allerdings dämpfen die Experten die Hoffnungen auf einen Wandel: Zwar sei in den vergangenen Jahren die Geburtenziffer je Frau leicht gestiegen – auf 1,41 Kinder im Jahr 2013. Die wieder steigenden Kinderzahlen ließen sich jedoch auch mit der demografischen Entwicklung erklären: Abhängig ist die Geburtenzahl insbesondere von der Zahl der Frauen im Alter zwischen 26 und 35 Jahren. „Seit 2008 hat sich die Frauenzahl in diesem Alter stabilisiert und nimmt sogar zu, was die Geborenenzahl noch einige Jahre positiv beeinflussen könnte“, so die Statistiker. Nach 2020 werde die Zahl der Frauen in diesem Alter allerdings voraussichtlich deutlich schrumpfen. Dann könne ein erneutes Geburtentief entstehen, so Anja Conradi-Freundschuh vom Statistischen Bundesamt.

1971 wurden in ganz Deutschland 1,01 Millionen Kinder geboren

Eine weitere Erklärung für die steigenden Geburtenzahlen könnte die Zuwanderung sein. Dem Statistischen Bundesamt liegen dazu nach eigenen Angaben zwar derzeit noch keine Zahlen vor. Das Statistische Landesamt in Baden-Württemberg allerdings führte die steigenden Geburtenzahlen im Südwesten am Freitag auf die „enorm angestiegene Zuwanderung“ zurück, die auch zu einer Zunahme der Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter geführt habe. 2014 war die Einwohnerzahl in Deutschland trotz eines Sterbeüberschusses wegen der hohen Zuwanderung auf 81,1 Millionen geklettert. Davon lebten rund 10,9 Millionen Zuwanderer in Deutschland.

Die Zahl der Geburten war erstmals 2005 unter 700.000 gerutscht; in der Zeit der Wiedervereinigung hatte es noch zwischen 800.000 und 900.000 Geburten pro Jahr gegeben. Unter die Millionengrenze fiel die Geburtenzahl 1972. Demgegenüber war 1964 das Jahr mit den meisten Geburten seit dem Zweiten Weltkrieg, damals kamen knapp 1,4 Millionen Babys in Deutschland zur Welt.

Einen Geburtenüberschuss gab es in Deutschland zuletzt 1971: Damals wurden in ganz Deutschland 1,01 Millionen Kinder geboren bei mehr als 965.000 Sterbefällen. Den höchsten Geburtenüberschuss verzeichnete Deutschland 1964 mit rund 487.000.

Bevor junge Menschen eine Familie gründen, ist einiges zu erledigen. „Die Menschen in Deutschland haben einen hohen Anspruch an Elternschaft“, sagt Soziologe Harald Rost vom Bamberger Staatsinstitut für Familienforschung: Sie wollen materielle Sicherheit, eine große Wohnung, einen guten Job. Sie wollen sich ausgelebt haben und viel gereist sein – und sie suchen den perfekten Partner. Bis das alles steht, sind sie relativ alt und bekommen dann oft weniger Kinder, als sie ursprünglich haben wollten – wenn es dann überhaupt noch klappt.

Um die Schere zwischen Geburten und Todesfällen zu schließen, gibt es nur zwei Wege: mehr Kinder pro Frau oder mehr Zuwanderung. Option eins: Frauen bekommen mehr Kinder. Heute kriegen sie ihr erstes Kind im Durchschnitt mit 30 Jahren und bringen statistisch 1,4 Babys zur Welt. Wollte man allein durch „mehr Kinder pro Frau“ die Lücke schließen, müsste jede Frau im Schnitt 2,1 Kinder bekommen, haben die Statistiker errechnet.

Die Politik habe wenig Optionen, sagt der Bamberger Familienforscher. Natürlich müsse sie dafür sorgen, dass Familie und Beruf so gut wie möglich zu vereinbaren seien. Der Ausbau der Betreuung und das Elterngeld hätten Hürden abgebaut. „Aber man muss sehen, dass diese demografische Entwicklung für die nächsten Jahrzehnte nicht mehr gestoppt werden kann – außer durch massive Einwanderung.“

Nicht alle Gruppen von Einwanderern haben eine höhere Geburtenziffer

Wie also steht es um Option zwei: Zuwanderung? Jürgen Dorbritz vom Wiesbadener Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung glaubt, dass auch das nicht ausreichen wird. „So viel Zuwanderer kann Deutschland vermutlich nicht aufnehmen, um so einen Effekt zu erreichen.“ Nicht alle Gruppen von Einwanderern hätten schließlich eine Geburtenziffer, die deutlich über der hierzulande liege. Dabei geht es nicht nur um Flüchtlinge, die gerade nach Deutschland kommen, sondern um Einwanderung generell.

Weder Familienpolitik noch Einwanderungspolitik sind aus Sicht des Bevölkerungsforschers in der Lage, das langfristige Problem zu lösen, dass in Deutschland mehr Menschen sterben als geboren werden: „Diese Lücke ist nicht schließbar“, sagt Dorbritz. „So schnell, wie die Zahl der Todesfälle ansteigt, kann man die Geburtenzahl nicht erhöhen.“ Die Generation der Babyboomer komme langsam in das Alter, in dem bald viele sterben werden. Aktuell zählen noch jene Jahrgänge zu den ältesten Menschen, die vom Krieg ohnehin dezimiert sind. Für Dorbritz ist klar: „Wir müssen es hinnehmen, dass die Bevölkerung weiter altert – mit Konsequenzen für Rentensystem, Gesundheitssystem und Arbeitsmarkt.“