Berlin/Brüssel. Innenminister de Maizière erhöht Asylbewerber-Prognose auf 800.000. EU ist weit von gemeinsamer Politik entfernt

Der Bund erwartet 2015 viermal so viele Asylbewerber wie im vergangenen Jahr. „Wir müssen damit rechnen, dass in diesem Jahr bis zu 800.000 Menschen als Asylbewerber oder Flüchtlinge zu uns nach Deutschland kommen“, sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) gestern nach Beratungen mit Ländervertretern in Berlin. Dies wäre der größte Zustrom von Flüchtlingen seit Bestehen der Bundesrepublik. Bisher ging das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge für das Gesamtjahr von 450.000 Asylanträgen aus. Im vergangenen Jahr beantragten 202.000 Menschen Asyl.

Die Entwicklung sei „eine Herausforderung für uns alle, für Bund, Länder und Kommunen. „Auf hohe Flüchtlingszahlen werden wir uns noch einige Jahre einzustellen haben“, ist sich der Minister sicher. Deutschland könne die Situation aber meistern und sei nicht überfordert, wenn alle an einem Strang zögen. Angesichts der Dimension des Problems müsse über neue Lösungen nachgedacht werden. So könnten bei der Unterbringung von Flüchtlingen Hindernisse geräumt werden, die durch das Vergabe- oder Emissionsschutzrecht entstünden. Er sprach sich dafür aus, alle Gesetze entsprechend zu durchforsten oder ein „Standardabweichungsgesetz“ zur Unterbringung von Asylbewerben auf den Weg zu bringen. Anders werde es nicht gelingen, aus Zelten winterfeste Unterkünfte zu machen. De Maizière mahnt zugleich in Europa eine faire Lastenverteilung und feste Aufnahmequoten an. Andernfalls könne demnach das Schengen-Abkommen zum Wegfall der Kontrollen an Binnengrenzen auf Dauer keinen Bestand haben.

Fast alle in Brüssel stimmen dem zu: Die Flüchtlingskrise ist ein europäisches Problem. Soll heißen: Die Menschen, die in immer größerer Zahl übers Mittelmeer oder auf der Balkanroute zu uns kommen, die wollen vielleicht lieber nach Schweden oder Deutschland als nach Bulgarien oder in die Slowakei. Aber vor allem wollen sie in die Wohlstands- und Friedenszone Europa, raus aus Bürgerkrieg, Verfolgung und Armut. Deswegen müsse die Europäische Union das Problem gemeinsam lösen, human gegenüber den Schutzsuchenden, solidarisch untereinander. Fromme Worte.

Denn die Europäische Union bringt die politische Kraft nicht auf, das, was sie predigt, auch in die Tat umzusetzen. Die verstörenden Berichte über schiffbrüchige Flüchtlinge im Mittelmeer – mindestens 2300 sind nach Zahlen der Internationalen Organisation für Migration dieses Jahr bereits ertrunken – hatten im Frühjahr den Staats- und Regierungschefs der EU ein feierliches Bekenntnis zu entschlossenem Handeln abgenötigt. Doch die seither steil ansteigenden Zahlen von Asylbewerbern und Flüchtlingen haben das Gelöbnis rasch in nationalem Egoismus aufgelöst.

Die Mitgliedstaaten zanken um die Verteilung und Registrierung der Ankömmlinge. Der Süden fordert mehr Hilfe, die Balten drücken sich leise in die Ecke. Die Ungarn errichten an der Grenze zu Serbien einen mächtigen Zaun, Briten und Dänen verweisen auf ihren Sonderstatus außerhalb der EU-Innenpolitik. Wenn es um die Aufnahme der lästigen Zuzügler geht, ist es mit der Gemeinschaft schnell vorbei. Auf dem EU-Gipfel im Juni brüllten die Chefs sich an. „Wenn das eure Vorstellung von Europa ist, könnt ihr es behalten!“, blaffte Italiens erboster Regierungschef Renzi.

Seit einem Gipfel im finnischen Tampere 1999 versteht sich die EU als „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, in dem der Umgang mit Asylbewerbern gemeinschaftlich geregelt werden sollte. Tatsächlich haben sich die Mitgliedstaaten indes Spielregeln („Dublin-Verfahren“) gegeben, die weder praktisch noch solidarisch sind: Um einen Flüchtling muss sich das Land kümmern, in dem er zuerst EU-Boden betritt. Dort hat ein Asylbewerber seinen Antrag zu stellen, dort müssten die Behörden darüber befinden. Fair ist anders – das Prinzip begünstigt Länder ohne EU-Außengrenze und bürdet denen an der Peripherie die Hauptlast auf.

Kommission will im Herbst ihre „Migrationsagenda“ vorantreiben

Die Randstaaten im Süden wiederum nehmen es mit der Registrierung der Ankömmlinge nicht so genau und lassen sie gern auch ohne die vorgeschriebene Abnahme von Fingerabdrücken nach Norden weiterziehen – Schengen macht’s möglich. Griechenland ist sogar offiziell – laut Beschluss europäischer Gerichte – zur ordnungsgemäßen Aufnahme der Zuflucht­suchenden nicht in der Lage. Die Pläne von EU-Kommissionschef Juncker für eine ausgewogenere Verteilung der Lasten sind auf halber Strecke stecken geblieben. Von einem verpflichtenden Schlüssel wollte die Mehrheit der Regierungen nichts wissen. Statt der angepeilten 60.000 kamen für das Ansiedlungsprogramm nur 55.000 Plätze für Asylbewerber und Flüchtlinge zusammen. Dennoch will die Kommission im Herbst ihre „Mi­grationsagenda“ vorantreiben, mit mehr Unterstützung der Ankunftsstaaten Italien und Griechenland, robustem Einsatz gegen das Schlepperwesen und durch Verständigung über eine gemeinsame Liste sicherer Herkunftsländer.