Hamburg. Die Hamburger Behörden ziehen die Papiere von jungen Islamisten ein. Doch manche hält das auf ihrem Weg ins syrische Kriegsgebiet nicht auf

Christoph Heinemann

Der Abschied aus seinem Hamburger Leben kommt per SMS an den Bruder. „Macht euch keine Sorgen. Ich bin in der Türkei“, schreibt Önder M. Dazu schickt er ein Video, mit dem Handy aufgenommen, irgendwo in einem Istanbuler Bahnhof. Der Bruder zu Hause in der Wohnung schaut sofort nach seinem Reisepass in der Schublade. Er ist weg. Önder M. hat ihn genommen und ist damit losgereist.

So soll es gewesen sein, Anfang des Jahres, als M. aufbrach in Richtung Türkei, wahrscheinlich in Richtung Syrien, in den Dschihad. So erzählt es ein Bekannter der Familie. Gegen Önder M. läuft ein Verfahren; der junge Mann, Jahrgang 1996, aus dem Bezirk Altona hat nun eine Akte bei der Polizei. Die Familie möchte nicht mit Journalisten sprechen. Zum Schutz sind ihre Namen geändert, ihre Geschichten sind wahr.

Önder M. hatte sich radikalisiert, verteilte den Koran auf der Straße, lebte offenbar mit Islamisten in einer Wohnung, ließ sich einen Bart wachsen, wie ihn viele der Männer tragen, die Behörden und Medien Salafisten nennen. Rund 60 Hamburger reisten seit 2012 laut Verfassungsschutz ins Gebiet ex­tremistischer Gruppen wie des „Islamischen Staats“ (IS) in Syrien oder dem Irak. Bundesweit sind es 720.

Geheimdienst und Polizei kannten Önder M.s Weg in die Radikalität. Ende 2014 informierten sie seine Eltern über dessen Umtriebe in der Salafisten-Szene. Auf Antrag der Sicherheitsbehörden wird ihm der Pass entzogen. Drei Monate später ist Önder M. weg.

Er ist kein Einzelfall. In Hamburg haben sich vier Islamisten auf den Weg in Richtung syrisches Kriegsgebiet gemacht, obwohl die Behörden ihnen vorher den Pass entzogen oder sogar einen Ersatz-Personalausweis ausgestellt hatten. Die Beamten konnten ihnen nicht auf den Fersen bleiben. Offenbar schafften sie es vorbei an den Grenzkontrollen der Bundespolizei oder den Beamten an der EU-Außengrenzen – trotz Verbots, das laut Anweisung sowohl in nationalen Datenbanken als auch in den Daten der Schengenstaaten gespeichert werden soll.

In Hessen flohen zwei Islamisten – trotz elektronischer Fußfessel

Zwei Personen reisten 2014 aus Hamburg aus, schon zwei Fälle sind den Hamburger Behörden in diesem Jahr bekannt. Das geht aus einer Anfrage der Hamburger Linken hervor, die dem Abendblatt vorliegt. Einer der Ausreißer ist Önder M. Insgesamt entzog die Behörde bisher mindestens 19 Islamisten in der Hansestadt die Reisedokumente. Bundesweit ist es eine niedrige dreistellige Zahl; genaue Angaben liegen Bundesbehörden nicht vor. Sie verweisen nur an die Länder.

Die Erfahrungen dort zeigen: Die Polizei kann die Ausreisen junger Menschen in den Krieg nicht immer verhindern. Im Januar gibt die Bundesregierung an, dass seit 2012 mindestens 20 Islamisten auch ohne Pass nach Syrien und Irak aufgebrochen sind. In Hessen gelang zwei Männern die Flucht, obwohl Behörden ihnen eine elektronische Fußfessel verpasst hatten.

Stolz hatten Justizminister Heiko Maas (SPD) und Innenminister Thomas de Maizière (CDU) 2014 die Maßnahmen zum Passentzug präsentiert. Auch Hamburgs Innensenator Michael Neumann (SPD) hatte sich für die schärferen Gesetze stark gemacht. Nun stellt der Senat zu den vier Ausreißern fest: „In der Regel wird ein Reiseweg über die Türkei auf dem Luft- oder Landweg genutzt, aber nicht in jedem Fall ist der Reiseweg bekannt.“ Und wer als Dschihadist in die Türkei reisen wollte, brauchte bis Anfang des Jahres nur seinen Personalausweis.

Und doch: Nicht nur Verfassungsschutz und Polizei halten Ausreiseverbote für sinnvoll. Der Senat bewertet sie als „wichtigen Baustein“ im Kampf gegen Islamisten. Dies habe eine „abschreckende Wirkung“. 2015 besserte die Regierung nach: Auch der Personalausweis kann eingezogen werden.

Susanne Schröter, Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums globaler Islam, und Petra Lotzkat, die das Amt für Arbeit und Integration in Hamburg führt, sprechen sich ebenfalls dafür aus. Doch Schröter sagt auch: „Die Sicherheitsbehörden kommen bei der stark steigenden Zahl an Dschihadisten gar nicht hinterher, alle Fälle zu beobachten.“ Ein Allheilmittel ist der Passentzug nicht, das sehen alle so.

Die Opposition warnt vor Risiken. Cansu Özdemir von den Linken befürchtet, dass sich die Behörden nicht nur auf die Dschihadisten beschränken könnten. „Zum Beispiel auch Kurden, die gegen den IS kämpfen wollen, könnte der Pass entzogen werden.“ Deutschland stuft die PKK als Terrororganisation ein. Bisher ist das laut Senat aber nicht der Fall.

Und auch Szenekenner wie Lotzkat sagen: „Die radikalisierten Jugendlichen bewegen sich möglicherweise stärker in den Untergrund. Hier müssen wir aufpassen, dass wir diese Menschen nicht für die Präventionsarbeit verlieren.“ Islamisten chatten nicht mehr so stark auf Facebook, sondern geheim: mit dem Handy in geschlossenen Gruppen wie WhatsApp, in verschlüsselten Foren oder in geheimen Treffs: in Wohnungen oder Boxclubs.

Die Szene stellt sich auf schärfere Gesetze ein. Zwei der vier Ausreißer aus Hamburg hätten vorher laut Senat einen fremden Ausweis gestohlen. Nach Informationen des Abendblatts läuft derzeit auch ein Verfahren gegen Önder M. – wegen Diebstahls. Auch der Staatsschutz prüft den Fall.

Ob Mehmet A. von dem Passentzug abgeschreckt ist, bleibt offen. Auch er und seine Familie möchten nicht mit Journalisten sprechen. Klar ist: A., Jahrgang 1998, hat keinen Pass mehr. Und er ist noch in Hamburg. Nicht im Dschihad. Der Fall von Mehmet A. zeigt das schnelle Vorgehen der Behörden. Doch er wirft auch Fragen auf.

Die Familie lebt in einer kleinen Wohnung im Westen der Stadt. A. wird hier geboren, geht zur Schule. Er erhält wie seine Eltern einen Aufenthaltstitel, der mehrfach verlängert wird. So steht es in der Akte der Behörden. Es sind Dokumente, die von der Geschichte einer Einwanderung erzählen, so wie es sie zu Tausenden in Hamburg gibt. Doch 2014 kommen neue Einträge dazu. Das Landeskriminalamt schaltet sich ein. Mehmet A. wurde von der Polizei bei Krawallen zwischen Islamisten und Kurden gefasst. In einem Vermerk heißt es, dass in solchen Fällen auf Wunsch des Innensenators die Abschiebung geprüft werden soll.

Ende 2014 prüft der Verfassungsschutz, welche Chancen es für den Entzug des Passes gibt. Aus der Akte geht hervor, dass die Verfassungsschützer vor allem Mehmet A.s Facebook-Profil als „dschihadistisch“ bewerten. Dessen Seite war bereits gelöscht, doch der Geheimdienst hatte alte Einträge gespeichert. Auf der Internetplattform befasse sich A. laut Verfassungsschutz vor allem mit Islam und dem Konflikt in Syrien. Dabei habe er auch „offen seine Sympathie für den IS“ geäußert. Auf den Profilseiten der Koranverteiler von „Lies“ oder „Hamburg Dawah Movement“ klickte er „gefällt mir“. Vor allem diese Männer sieht der Verfassungsschutz als Werber für den Dschihad.

Der Dienst bilanziert in seiner Akte zu Mehmet A., dass eine Ausreise in das Dschihad-Gebiet nach Syrien oder Irak unmittelbar bevorstehen könnte. Dass A. dort auch auf Seiten von Terrorgruppen kämpfen könnte, sei anzunehmen. Schon einen Tag später geht die Verfügung per Post an die Eltern. Ihrem Sohn wird die Ausreise verwehrt, binnen einer Woche soll A. seinen Pass bei der Behörde abgeben, die Bundespolizei sei informiert, seine Daten nun im Schengener Informationssystem SIS gespeichert. Verstößt A. gegen das Ausreiseverbot, droht ihm bis zu einem Jahr Haft. Er ist jetzt für die Behörden eine Gefährdung für die innere und äußere Sicherheit der Bundesrepublik. Ob vor dem Passentzug überhaupt mit den Eltern gesprochen wurde, geht aus der Akte nicht hervor. Nur Tage später bringt der Vater den Pass zur Behörde.

Die Behörde macht viel – und doch fühlen sich Familien alleingelassen

Der Fall Mehmet A. zeigt, wie schnell Behörden reagieren. Er zeigt aber auch, dass Familien wenig Einfluss haben. Als die Eltern mit ihrem Sohn zum Urlaub in die Türkei reisen wollen, bitten sie um ein Ende der Sperre. Die Behörde lehnt ab. Zwar sei A. in seinen Äußerungen im Netz vorsichtiger geworden, doch habe er erneut an Koranständen für die Salafisten geworben. Der Passentzug bleibt.

Ein Vertrauter der A.s erzählt, dass sich die Familie mit der Radikalisierung ihres Kindes alleingelassen fühlt. Auch andere Eltern hatten kritisiert; eine Mutter aus Wilhelmsburg hatte ihren Sohn sogar angezeigt, als dieser vom Dschihad schwärmte. Verfassungsschützer observierten den Mann. Genützt hat es nichts, er reiste aus.

Doch sind die Behörden nicht tatenlos. Seit 2012 betreuten Sozialarbeiter 90 Familien. Nur: In der Zeit, als Önder M. in den Dschihad reiste, baute Hamburg die Präventionsarbeit noch auf. Viele Fälle landeten beim Bund oder einem Bremer Verein, den Hamburg mit der Arbeit beauftragt hatte. Erst jetzt bietet die Stadt Familien eigene Hilfe an. Die Pädagogen arbeiten nun die Listen ab. Auch die großen muslimischen Verbände und die Aleviten engagieren sich, das ist bundesweit einmalig. Önder A.s Familie hilft das derzeit wenig. Ihr Kind ist schon weg.