Hamburg. Europa ist ein begehrtes Ziel. Doch die wirkliche Krise spielt sich südlich der Sahara und damit fern unserer Grenzen ab

Der Zustrom von Flüchtlingen bringt viele deutsche Städte und Kommunen an den Rand ihrer Aufnahmefähigkeit. Bis Jahresende wird mit 450.000 Asylanträgen gerechnet, mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. Deutschland hilft – und Deutschland diskutiert über eine neue Flüchtlingspolitik, über die Verteilung von Geld, die Schaffung von Unterkünften. Und Europa streitet über eine gerechtere Verteilung der Hilfesuchenden. Die größten Flüchtlingskrisen spielen sich allerdings weit weg von der EU und von den deutschen Grenzen ab.

Seit dem Beginn des Bürgerkriegs in Syrien vor mehr als vier Jahren hat allein die Türkei etwa 1,8 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Der Libanon mit rund vier Millionen Einwohner hat mehr als einer Million Syrern Schutz gewährt. In Jordanien wurde 2012 als kurzfristige Nothilfe das Uno-Lager Saatari eingerichtet. Mittlerweile ist es mit 81.000 Menschen die neuntgrößte Stadt des Landes. Insgesamt leben in Jordanien mittlerweile mehr als 600.000 syrische Flüchtlinge.

Auf keinem Kontinent aber sind so viele Menschen auf der Flucht vor Krieg, Hunger und Menschenrechtsverletzungen wie in Afrika. Südlich der Sahara haben die Krisen in Ländern wie Südsudan, Kongo, Somalia oder der Zentralafrikanischen Republik dem Uno-Flüchtlingshilfswerk zufolge 15 Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Afrikanische Nachbarstaaten gewähren ihnen Schutz. Weitere Millionen suchen als Binnenflüchtlinge im eigenen Land in anderen Regionen Zuflucht.

In dem kleinen ostafrikanischen Land Burundi sind allein seit März 180.000 Menschen in die Nachbarländer geflohen. Burundi wurde im April in eine Krise gestürzt, als Präsident Pierre Nkurunziza begann, entgegen der Verfassung nach einer dritten Amtszeit zu greifen. Die Fliehenden fürchten ein Wiederaufflammen ethnischer Spannungen, die in den 1990er-Jahren zu einem Bürgerkrieg mit 300.000 Toten geführt hatten.

Knapp eine Million Somalis sind vor der anhaltenden Gewalt in ihrer Heimat am Horn von Afrika in Nachbarländer geflohen. Rund 420.000 leben in Kenia, jeweils etwa 250.000 in Äthiopien und im Jemen. Viele Somalis in Kenia sind dort in Flüchtlingslagern zur Welt gekommen, sie werden inzwischen jedoch mit Argwohn betrachtet. Behörden befürchten, dass manche von ihnen Verbindungen zur islamistischen Terrorgruppe al-Shabaab unterhalten. In Kenia liegt auch das größte Flüchtlingslager der Welt, Dadaab, in dessen Camps rund 350.000 Somalis leben. Mehr als 1,1 Millionen Menschen in Somalia sind Binnenflüchtlinge.

Rund 755.000 Menschen sind vor der Gewalt im Südsudan in die Nachbarländer geflohen, zumeist nach Äthiopien, Uganda und dem Sudan. Das eher christliche Land spaltete sich 2011 vom mehrheitlich muslimischen Sudan ab. Eine bitterer Machtkampf zwischen Präsident Salva Kiir und seinem Ex-Vize Riek Machar hat seit Ende 2013 zu einer neuen Spirale von Gewalt und Vertreibung geführt. 1,6 Millionen Menschen sind innerhalb der Landesgrenzen geflohen, zudem sind rund 300.000 Menschen aus dem Sudan in den Südsudan geflüchtet.

Rund 500.000 Kongolesen sind vor andauernder Gewalt und Gesetzlosigkeit in Nachbarländer geflohen. Mehr als 2,75 Millionen Menschen haben ihre Heimat verlassen, um innerhalb der Landesgrenzen anderswo Schutz zu suchen. Vor allem der Osten des Kongos wird von verschiedenen Rebellen und Milizen heimgesucht. Diese kämpfen zumeist um die Vorherrschaft über örtliche Mineralienvorkommen – darunter zum Beispiel Gold und das für die Handyproduktion wichtige Coltan.

Rund 460.000 Menschen sind vor den Kämpfen in der Zentralafrikanischen Republik in die Nachbarländer Kamerun, Tschad und Kongo geflohen. Etwa ebenso viele gelten als Binnenflüchtlinge. Gewalt zwischen den Religionsgruppen bestimmt den Alltag in dem Land, das laut einem Uno-Entwicklungsindex das drittärmste Land der Welt ist. Der Konflikt brach aus, nachdem muslimische Seleka-Rebellen 2013 den christlichen Präsident François Bozizé entmachtet hatten.

Rund 150.000 Nigerianer sind wegen des blutigen Terrorfeldzugs von Boko Haram in Nachbarländer geflohen, vor allem in den Niger und nach Kamerun. Rund 1,4 Millionen Menschen sind aus dem Nordosten Nigerias, wo die sunnitischen Extremisten wüten, in andere Landesteile geflohen.

Die traurige Aufzählung ließe sich in Afrika und auf anderen Kontinenten fortführen. Derzeit befinden sich weltweit knapp 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Dies ist die höchste Zahl, die jemals vom UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, verzeichnet wurde.