Berlin . Krankgeschrieben – abgeschrieben? Seehofers Zipperlein, oder: Wenn Gesundheit zu einem Politikum wird

Am Sonntag ist er in der ARD, das Sommerinterview, das Ewig-grüßt-das-Murmeltier-Format. Ein dankbarer Termin für einen Profi. Horst Seehofer ist lang genug dabei, mehr als 35 Jahre in der großen Politik. Ihn sollte eigentlich keine Frage mehr in Verlegenheit bringen, noch am ehesten die einfachste von allen: Wie geht es Ihnen?

Seit Monaten wird über Seehofers Gesundheitszustand spekuliert, seit Tagen in verschärfter Form. Und so ist aus einer Allerweltsfrage längst ein Politikum geworden. Die „Süddeutsche Zeitung“ wetterte, „Bild“ lasse keine Gelegenheit aus, den bayerischen Ministerpräsidenten als schwachen Mann darzustellen, und „das nützt vor allem seinem Möchtegern-Nachfolger“. Gemeint ist Finanzminister Markus Söder (CSU). Erst krankgeschrieben, dann abgeschrieben – ist das so?

Spitzenpolitik ist brutal, schon wegen der chronischen Übermüdung. Die einen zerbrechen daran, die anderen nicht. Was sich die Unverwüstlichen mitunter selbst nicht richtig erklären können. Auf Nachfragen hat Gerhard Schröder gern salopp geantwortet: „Ich habe die Gene meiner Mutter geerbt.“ Als seine Nachfolgerin, Kanzlerin Angela Merkel (CDU), binnen weniger Tage zwischen Kiew, Moskau, Washington, Ottawa und Minsk pendelte, wurde sie dafür bewundert und die Schlafforscher wurden befragt: Wie schafft sie das nur?

Fast zur gleichen Zeit beschrieb der „Spiegel“ so detailgenau wie sonst nur (vom Hörensagen) Seehofers Modelleisenbahn im Keller den Gesundheitszustand des CSU-Chefs. Wie schwer es ihm falle, Treppen zu steigen, wie oft der Mann Verschnaufpausen einlegen und sich am Geländer festhalten musste und wie die Leibwächter ihm verstohlen Schokoriegel zusteckten. Kurzum: Wie groggy er war. Fitness ist ein Statement – Müdigkeit eine Blöße.

Seehofer will bis 2018 im Amt bleiben. Die Frage ist, ob ihm, buchstäblich wie bildlich, die Kraft bleibt, den Abgang selbst zu regeln.

Auf irgendeinen Kodex, dass die Gesundheit privat sei und auch bleibe, kann sich keiner verlassen. Wer es konnte, der hat Gebrechen meist verheimlicht und vertuscht. Erst im Nachhinein hat die Welt erfahren, dass US-Präsident John F. Kennedy nicht vor Kraft strotzte, sondern im Gegenteil an Rückenproblemen, Asthma, extremer Müdigkeit und zahlreichen Allergien litt, oder wie krebskrank die französischen Staatschefs Georges Pompidou und François Mitterrand waren. Dass Kanzler Helmut Schmidt mehr als einmal bewusstlos in seinem Büro vorgefunden wurde, war ein gut gehütetes Geheimnis. Wochenlang wurde 2004 verheimlicht, dass der damalige Verteidigungsminister Peter Struck einen Schlaganfall erlitten hatte. Die Familie hat ihn geschützt.

Es wird allerdings immer schwerer, Schwächen zu verbergen. In den 70er-Jahren konnte Willy Brandt sich noch tagelang eine Auszeit nehmen und für niemanden zu sprechen sein, weil er an Depressionen litt. Heute fällt es sofort auf, wenn einer wie Seehofer bei Terminen fehlt – einer twittert immer. Wenn Seehofer das Bayreuther Festspielhaus mitten im dritten Akt von „Tristan und Isolde“ verlassen muss, weil er sich nicht gut fühlt, steht es in der Zeitung – auch dann, wenn der Rettungswagen ohne Blaulicht fährt und auf eine Krankentrage verzichtet wird, um nicht aufzufallen.

Ob Seehofer nur blümerant geworden war, ob er nur zur Vorsicht ins Krankenhaus fuhr oder ob es doch ernst war, das können nur er und seine Ärzte wissen. Anfang der Woche verkündete er umgehend, ihm gehe es gut, er fühle sich „völlig fit“. Es gebe nichts von Belang. „Punkt.“

Vorbehaltlos gilt das eben nicht. Seehofer will im Amt bleiben, „wenn mir der Herrgott die Gesundheit schenkt“. Und das ist auch so ein Allerweltssatz, der in der Politik längst seine Unschuld verloren hat. Im Mai 2012 hat der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck einen nahen Rücktritt dementiert und beteuerte, im Amt zu bleiben, solange seine Gesundheit das zulasse. Anfang 2013 trat Kurt Beck zurück.

Ist die Wahrheit erst mal raus,wird einer hoffentlich in Ruhe gelassen

Wenn die Politik ein Haifischbecken ist, dann darf man alles, nur nicht seine Rivalen mit Blut anlocken. Helmut Kohl schilderte in seinen Erinnerungen, wie er sich 1989 unter „wahnsinnigen Schmerzen“ an der Prostata zu einem Parteitag quälte. Er ahnte, dass seine Gegner ihn stürzen wollten. Und wusste, dass er sich keine Schwäche erlauben durfte. Er war das Beispiel des Alphatiers, das über jede Schmerzgrenze geht.

Nicht jede Schwächephase lässt sich verbergen, zum Beispiel nicht, als Merkel im Winterurlaub 2014 hinfiel: Beckenknochenanbruch – in den ersten Tagen quasi im Liveticker zu verfolgen. Die kleine Zwangspause gereichte Merkel nicht zum Nachteil. Dass sie ihre Aufgaben wahrnehmen konnte, stand ohnehin außer Frage.

Ob Krankheit überhaupt noch ein Tabu ist? Darüber wird auch unter Politikern kontrovers diskutiert. Viele erzählen inzwischen offen(er) von ihren Krankheiten oder nach einem medizinischen Eingriff: Gregor Gysi, Oskar Lafontaine, Hans-Christian Ströbele, Wolfgang Bosbach. Auch dahinter kann ein Kalkül stecken, wie der ehemalige brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) nach einem Schlaganfall eingeräumt hat: Ist die Wahrheit erst mal raus, wird einer hoffentlich in Ruhe gelassen. Man sucht – paradox – die Öffentlichkeit zum Selbstschutz.