Berlin. Ermittlungen gegen „Netzpolitik.org“ in der Kritik. Künast sieht Blamage des Rechtsstaates

Der Gründer des Blogs Netzpolitik.org wirft der Bundesregierung und dem Generalbundesanwalt vor, mit den Ermittlungen wegen Landesverrats Journalisten einschüchtern zu wollen. „Wir sehen das klar als Einschüchterungsversuch der Bundesregierung oder unserer Sicherheitsbehörden, gedeckt durch die Bundesregierung, gegen investigative Journalisten und ihre Quellen“, sagte Markus Beckedahl am Freitag. Man habe mit der Veröffentlichung von internen Dokumenten des Verfassungsschutzes lediglich eine gesellschaftliche Debatte über den Ausbau der Netzüberwachung anstoßen wollen.

Generalbundesanwalt Harald Range ermittelt wegen Landesverrats gegen ihn und den Netzpolitik.org-Autor André Meister. Netzpolitik.org hatte über Pläne des Bundesamtes für Verfassungsschutz berichtet, Online-Netzwerke stärker zu überwachen. Dazu veröffentlichte das Blog vertrauliche Unterlagen. Der Verfassungsschutz habe Anzeige erstattet, schrieb der Generalbundesanwalt an die Blogger.

Die Vorsitzende des Rechtsausschusses im Bundestag, Renate Künast (Grüne), sprach im „Kölner Stadt-Anzeiger“ von einer Blamage für den Rechtsstaat. Sie warf Range ein Missverhältnis vor. „Auf eine Anzeige hin prüft er nicht lange. Da geht das zack, zack“, sagte Künast. Da werde auch nicht die Verhältnismäßigkeit abgewogen. Auf der anderen Seite gebe es „ein massenhaftes Ausspähen und Abhören“ durch den US-Geheimdienst NSA. „Und da passiert gar nichts. Das erbost mich und ist rechtsstaatlich eine Blamage“, sagte die Bundestagsabgeordnete und fügte mit Blick auf die NSA-Abhörmaßnahmen hinzu: „Wenn es keinen investigativen Journalismus gäbe, dann wüssten wir gar nichts.“

Der Leiter des Rechercheverbundes von NDR, WDR und „Süddeutscher Zeitung“, Georg Mascolo, sagte MDR Info, es gebe zwar ein berechtigtes Geheimhaltungsinteresse des Staates. Doch „wenn Journalisten Täter werden, wenn sie befürchten müssen, sich durch die Veröffentlichung von bestimmten Informationen strafbar zu machen, dann ist das Risiko für Journalismus ungeheuer hoch“. Zudem habe der Vorwurf des Landesverrats eine unselige Tradition. Die Generalbundesanwaltschaft sei in den vergangenen Jahren damit zurückhaltend umgegangen.

Range will die Ermittlungen zwar nicht einstellen, aber zumindest ruhen lassen. Seine Behörde verzichte mit Blick auf das hohe Gut der Pressefreiheit vorerst auf nach der Strafprozessordnung mögliche Exekutivmaßnahmen, sagte er der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Es sei zunächst zu klären gewesen, ob es sich bei den Veröffentlichungen um die Bekanntgabe eines Staatsgeheimnisses handelt. Dazu werde ein externes Sachverständigengutachten eingeholt. „Bis zum Eingang des Gutachtens wird mit den Ermittlungen innegehalten“, erklärte er.

Ermittlungen gegen Journalisten wegen des Verdachts auf Landesverrat erinnern an die „Spiegel-Affäre“ von 1962. Nach einem Artikel über die strategische Politik des damaligen Verteidigungsministers Franz Josef Strauß (CSU), dem als geheim eingestufte Dokumente zugrunde lagen, wurden die Redaktionsräume durchsucht, Herausgeber Rudolf Augstein und die Chefredakteure Johannes Engel und Claus Jacobi wurden verhaftet. 1965 wurde das Verfahren eingestellt.

Seite 2 Leitartikel: Das schwächste Glied