Berlin. Reformvorschläge aus Athen liegen vor. Am Wochenende will die EU neue Verhandlungen prüfen. Dazu bräuchte Finanzminister Schäuble ein Mandat. Sondersitzung des Bundestages?

Nachdem Griechenland seine Reformvorschläge gemacht hat, ist der Kampf um die Deutungshoheit entbrannt: Reicht es aus, was der Athener Regierungschef Alexis Tsipras anbietet? Sollten die Gläubiger am ­Wochenende in Brüssel tatsächlich weitere Hilfen in Aussicht stellen, muss Kanzlerin Angela Merkel (CDU) danach in Berlin noch eine wichtige Hürde nehmen: Den Bundestag – dort insbesondere ihre Partei – für ein Verhandlungsmandat gewinnen.


Was ist neu? Was sind alte Hüte?

13 Seiten lang sind die Vorschläge aus Griechenland. Sie sind eine Bedingung, um über ein drittes Hilfsprogramm aus dem Euro-Rettungsschirm ESM zu verhandeln. Tsipras hatte am Mittwoch 53,5 Milliarden Euro (bis 2018) beantragt. Vertraut klingen die Versprechen, Korruption und Steuerhinterziehung rigoros zu bekämpfen. Privatisierungen sind ebenfalls schon oft diskutiert, aber von der Regierung ­Tsipras verzögert worden. Eine neue Qualität hat, dass sie die Anreize für Frühverrentung reduzieren und das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre anheben will. Relevant ist auch, dass die Mehrwertsteuer zum Teil steigen und dass für viele Inseln bisherige Steuervorteile fallen sollen.


Reicht das?
Nach einer ersten Einschätzung aus Brüssel kann die neue griechische Spar- und Reformliste ein „guter Ausgangspunkt“ für Verhandlungen über ein drittes Hilfsprogramm für Athen sein. Das verlautete am Freitagabend aus Kreisen der Geldgeber. Es seien aber noch lange und schwierige Debatten zu erwarten. Frankreichs Präsident François Hollande lobte, das Programm sei „seriös, glaubwürdig und zeigt die Entschlossenheit, in der Euro-Zone zu bleiben“.


Was sind die Kriterien der Institutionen?

Sie gehen vor allem der Frage nach, ob die griechische Wirtschaft wettbewerbsfähiger wird und ob Athen seine Schulden zurückzahlen kann. Gleichzeitig müssen sie die Vor- und Nachteile eines Ausstiegs aus dem Euro-Raum (Grexit) abwägen. Letztlich geht es darum, ob ein Grexit den ganzen Währungsraum gefährden würde.


Was steht in Brüssel an?

Am Sonnabend beraten die Finanzminister der Euro-Gruppe. Werden sie neue Verhandlungen empfehlen? Man könnte zum Beispiel darüber reden, mehr als die für 2015 und 2016 zugesagten 300 Millionen Euro im Verteidigungsetat zu streichen. Auch fordert die EU, Steuervorteile ausnahmslos für alle Inseln zu streichen. Das griechische Angebot ist nicht das letzte Wort. Bestenfalls ist es eine Verhandlungsgrundlage. Über die Empfehlung der Finanzminister müssen am Sonntag die Regierungschefs des Euro-Raums und der EU entscheiden.
Wie geht es in Berlin weiter?
Bei einem positiven Ausgang wird ­Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) beim Bundestag spätestens am Montag ein Verhandlungsmandat beantragen. Parlamentspräsident Norbert Lammert (CDU) würde die Abgeordneten zu einer Sondersitzung zusammenrufen, fristgerecht vermutlich am Mittwoch oder Donnerstag.


Heißt es, es gibt zwei Sitzungen?

Ja. Schäuble würde zunächst ein Verhandlungsmandat erhalten. Über das endgültige Ergebnis müsste der Bundestag erneut entscheiden.


Dann ist die erste Entscheidung nicht

reine Formsache?

Ganz im Gegenteil. Die politisch größte Hürde ist die Frage, ob man mit den Griechen noch reden soll.


Warum?

Weil nach den Erfahrungen mit der Regierung Tsipras die Enttäuschung tief sitzt. „Bloßen Zusagen und Versprechungen“ schenke er keinen Glauben, sagte Unions-Fraktionsvizechef Hans-Peter Friedrich (CSU). Keine Einzelmeinung in der Kanzlerpartei.


Wie lässt sich verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen?

Da kann man nur mit Schäuble antworten: „Just do it.“ Macht mal! SPD-Fraktionsvizechef Carsten Schneider traut den griechischen Abgeordneten zu, dass sie Tsipras nicht nur ein Verhandlungsmandat erteilen, sondern auch schnell den Worten Taten folgen lassen. „Ich habe gelernt: Im griechischen Parlament geht manches am Sonntag und manches auch sehr schnell“, erzählt er. Schneider hält die Vorschläge für schlüssig, „deswegen kann man jetzt endlich ernsthaft mit ihnen verhandeln“. Die Reaktionen aus der SPD, aber auch aus der Opposition sind tendenziell positiv. „Die griechische Regierung scheint mit der neuen Liste über ihren Schatten gesprungen zu sein“, sagte Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter.


Und in Merkels eigener Partei?

Wenn sich einer zu Wort meldet, dann zumeist kritisch. CSU-Mann Friedrich vermisst Vorschläge, um die griechische Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Dazu sei in Tsipras Liste mit Ausnahme der Privatisierungen „weit und breit nichts zu sehen“. Friedrich: „Ich hätte einen Vorschlag – eine eigene griechische Währung.“ Das wäre der Austritt aus dem Euro-Raum. So denken viele.


Würden sie Merkel auflaufen lassen?

Die Kanzlerin wird sich das weitere Vorgehen genau überlegen und vor allem eng mit Schäuble abstimmen. Nur wenn sie geschlossen agieren, haben sie auch eine Chance, die Fraktion hinter sich zu bringen. In Merkels Umfeld weiß man: „Es wird emotional nicht leicht.“ Der Kanzlerin ist klar, was absolut nicht geht: Ein Schuldenschnitt wäre der Union nicht vermittelbar. Man könnte den Griechen im Einigungsfall aber auf anderen Wegen entgegenkommen: Zinsen senken, Laufzeiten von Krediten verlängern.


Wie geht es weiter, wenn das dritte Hilfspaket in trockenen Tüchern ist?

Dann können die Griechen in den nächsten Monaten insgesamt fast 11,9 Milliarden Euro planmäßig an den IWF und EZB zurückzahlen und ihre Reformen angehen. Hilfe wird nur Zug um Zug erfolgen: Geld gegen Reformen, die Tsipras allerdings erst mühsam innenpolitisch durchsetzen muss.


Wie sieht der „Worst Case“ aus?

Die Griechen bekommen kein Geld und sind zahlungsunfähig. Wenn sie nicht freiwillig den Euro aufgeben, muss die EU versuchen, sie vorübergehend aus dem Währungsraum auszuschließen. Die EU müsste sich auf einen Gummi-Paragrafen besinnen, um ihre Kompetenzen zu erweitern, Schneider gibt zu bedenken: „Der Grexit ist für beide Seiten die teuerste Variante.“

Seite 2 Leitartikel: Merkels Abweichler