Berlin. Neue Wikileaks-Dokumente zeigen: US-Geheimdienst bespitzelte seit Anfang der 1990er-Jahre deutsche Politiker

Er wollte immer mit allen befreundet sein. Mit Michail Gorbatschow saß er am Rhein und sprach über die deutsche Einheit. Mit François Mitterrand stand er Hand in Hand vor den Gräbern von Verdun. Und natürlich suchte er auch die Nähe zu den US-Präsidenten Ronald Reagan und George Bush. Die Männerfreundschaften von Helmut Kohl (CDU) sind legendär, politisch haben sie ihm oft geholfen. Ohne Bush hätte Kohl die Einheit nicht umsetzen können. Doch nach den jüngsten Wikileaks-Enthüllungen über den US-Geheimdienst NSA ist klar: Die tiefe Verbundenheit in Zeiten des Kalten Krieges hat die Amerikaner nicht davon abgehalten, Kohls Telefon anzuzapfen.

Wikileaks veröffentlichte am Mittwochabend eine NSA-Liste mit 56 Telefonnummern, über die die „Süddeutsche Zeitung“, WDR und NDR zuerst berichteten. Aus dieser Liste geht unter anderem hervor, dass die NSA nicht nur die Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und Angela Merkel (CDU) abhörten, sondern auch Helmut Kohl (CDU). Der früheste Eintrag auf der Liste bezieht sich auf Johannes Ludewig, Kohl-Mitarbeiter und bis 1994 Leiter der Wirtschaftsabteilung im Kanzleramt. Auch die rot-grüne Koalition Schröders wurde bespitzelt. In den Unterlagen von Wikileaks sind unter anderem Bodo Hombach, von 1998 bis 1999 Kanzleramtsminister, Ernst Uhrlau, früher im Kanzleramt zuständig für die Geheimdienste, und Michael Steiner, damals Leiter der außenpolitischen Abteilung im Kanzleramt namentlich aufgeführt.

Von den 56 Nummern werden etwa zwei Dutzend bis heute genutzt – von Merkels engster Umgebung. Auf der Liste findet sich unter anderem die Durchwahl ihrer Büroleiterin Beate Baumann und von Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU). Ebenso abgehört wurden wohl Staatssekretär Klaus-Dieter Fritsche, zuständig für die Koordination der Geheimdienste, und Volker Kauder (CDU), Chef der Unionsfraktion im Bundestag. Zudem befindet sich auf der Liste auch eine Handynummer von Angela Merkel, die die Bundeskanzlerin bis Ende 2013 genutzt haben soll. Von wann genau die NSA-Liste stammt, ist nicht bekannt.

Die Bundesregierung prüft derzeit die Dokumente auf Authentizität

Konstantin von Notz, Obmann der Grünen im NSA-Untersuchungsausschuss, kritisierte die Bundesregierung. „Die Enthüllungen sind ein Offenbarungseid für die Politik der Bundeskanzlerin nach Snowden“, sagte er dieser Zeitung. „Erst ließ Frau Merkel durch Herrn Pofalla den Skandal abmoderieren, jetzt kommen im Wochentakt Skandale an die Öffentlichkeit.“ Merkel habe offensichtlich den Schutz deutscher Interessen massiv vernachlässigt, sagte von Notz. „Das Versagen der Spionageabwehr ist auch ihr Versagen.“

Erst vor einer Woche hatte Wiki­leaks Dokumente veröffentlicht, die belegen, dass auch das Wirtschafts-, das Finanz- und das Landwirtschaftsministerium seit den 1990er-Jahren vom US-Geheimdienst abgehört wurden. Die aktuellen Enthüllungen beweisen: Die NSA hörte deutsche Spitzenpolitiker und -beamte breitflächiger ab als bisher angenommen. Das bringt die Bundesregierung verstärkt unter Zugzwang. Am Mittwochabend hieß es vorerst: Man prüfe die Dokumente. Da ein „Nachweis der Authentizität fehlt“, sei „eine abschließende Bewertung derzeit nicht möglich“.

In einem Detail auf der NSA-Liste steckt übrigens eine gewisse Ironie. Ex-Kanzleramtsminister Ronald Pofalla warb noch am Donnerstag vergangener Woche im NSA-Untersuchungsausschuss vehement für die enge Zusammenarbeit mit den US-Nachrichtendiensten: „Ich mache mir große Sorgen um die Sicherheit. Ich weiß, wovon ich rede.“ Doch Pofalla, heute Generalbevollmächtigter der Deutschen Bahn, wird womöglich bis zu diesem Tag von der NSA abgehört. Auf der Liste steht seine bis heute aktive Handynummer.