Berlin. Merkel und Schäuble sind sich nicht einig. Finanzminister soll Athen Hilfen für freiwilligen Euro-Austritt angeboten haben.

Kurz vor der letzten Runde im Griechenland-Poker gibt es neue Hinweise auf tiefgreifende Differenzen zwischen Kanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble über die richtige Strategie in der Schuldenkrise. Während Merkel mit großem Einsatz für den Verbleib Griechenlands in der Euro-Zone wirbt, soll Schäuble hinter den Kulissen einen Euro-Austritt Athens sondiert haben. In Koalitionskreisen heißt es, Schäuble habe noch im Mai bei Gesprächen mit der griechischen Regierung dafür geworben, dass das Land freiwillig den Euro verlässt – dann könne es EU-Hilfen geben, die einen Zusammenbruch des öffentlichen Lebens bei der Rückkehr zur Drachme verhindern sollten.

Schäubles Sprecher wies gestern zwar einsilbig zurück, dass ein solches Angebot gemacht wurde. Doch dafür, dass der Finanzminister diese Idee schon länger verfolgt, gibt es eine belastbare Quelle: Der frühere griechische Vize-Regierungschef Evangelos Venizelos erinnert sich an ein dramatisches Gespräch mit Schäuble in einer Hotelbar im polnischen Breslau. Schon 2011 habe ihm der deutsche Minister einen freundschaftlichen Austritt im gegenseitigen Einvernehmen angetragen – die Euro-Partner würden dann bei einem sanften Übergang helfen, so schildert es Venizelos.

Wenn Schäuble diesen Versuch jetzt erneuert hätte, wären alle Beteuerungen, er und Merkel zögen an einem Strang, wertlos. Spekuliert wird schon länger über eine tiefer werdende Kluft zwischen den beiden. Der Minister nimmt ein Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone kühl in Kauf, er erwartet für die Weltwirtschaft „keinen ernsthaften Schaden“. Der Kabinetts-Senior hat das Vertrauen in die griechische Regierung verloren. So wie ihm geht es vielen in der Unions-Fraktion. Merkel will den „Grexit“ auf jeden Fall vermeiden, sie fürchtet die politischen Folgen für den Zusammenhalt der EU ebenso wie für das weltweite Ansehen Europas. Daher ihr Bekenntnis, Griechenland solle im Euro bleiben: „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.“

SPD-Fraktionsvize Carsten Schneider sieht den Koalitionspartner bereits in Nöten: Die Union sei gespalten, Merkel habe Schäuble „entmachtet“. Das wird zwar von Kanzlerin und Finanzminister heftigst dementiert.

In der Praxis aber hat jetzt sowieso Merkel und nicht Schäuble das entscheidende Wort, nachdem ein Vermittlungsversuch von EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker am Sonntag gescheitert ist. In Berlin gilt es als unwahrscheinlich, dass eine Lösung an diesem Donnerstag beim Treffen der Euro-Finanzminister gefunden wird; der Durchbruch dürfte erst beim EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs am 25. und 26. Juni auf höchster politischer Ebene erzielt werden, was Athens Regierungschef Alexis Tsipras sehr entgegenkommt.

Es wäre eine Einigung in letzter Minute: Bis zum 30. Juni muss das Land dem Internationalen Währungsfonds (IWF) 1,6 Milliarden Euro zurückzahlen. Am selben Tag endet das zweite, schon mehrmals verlängerte Hilfsprogramm – 7,2 Milliarden Euro an Krediten des Euro-Krisenfonds und des IWF sind noch nicht ausgezahlt, weil die Griechen eine geforderte Reformliste nicht vorgelegt haben. Am 1. Juli verfallen die Kredite automatisch. Griechenland wäre bankrott. Doch um an die frischen Milliarden zu kommen, muss Athen auf Verlangen der Geldgeber jetzt noch erklären, wie es mindestens zwei Milliarden Euro mehr einsparen oder erwirtschaften will als bisher geplant, damit künftig die Schulden bedient werden können.

Im Prinzip hat Athen die Vorgabe akzeptiert, die Umsetzung aber ist weiter strittig. Aus Sicht der EU-Kommission sind eine Rentenreform und eine höhere Mehrwertsteuer unverzichtbar. Athens Finanzminister Yanis Varoufakis sagt, eine Einigung könne in einer Nacht erreicht werden – doch drängt er zugleich auf einen Schuldenerlass, der aktuell chancenlos ist. In Berlin herrschte angesichts der griechischen Verzögerungstaktik Ratlosigkeit: „Unverantwortlich“ sei das Verhalten Athens, erklärte die SPD-Spitze. Und in der CDU-Führung zweifelte man daran, ob Athen den Ernst der Lage erkannt habe. „Wir wollen, dass Griechenland Mitglied in der Euro-Zone bleibt“, versicherte Regierungssprecher Steffen Seibert, an einer Einigung werde gearbeitet. Doch wird längst das Szenario eines Ausstiegs der Griechen aus dem Euro durchgespielt. Die EU-Finanzminister haben darüber beraten, in Berlin war es Thema in Bund-Länder-Gesprächen. Ökonomisch gelten die Folgen für die EU als verkraftbar, die Gefahr einer Ansteckung anderer Krisenländer wie Portugal ist wohl gering. Doch die Erschütterung in Griechenland wäre dramatisch: Das Land würde zum 1. Juli ein „Notstandsgebiet“, warnt EU-Kommissar Günther Oettinger. Dann drohten Probleme bei der Energie- und Gesundheitsversorgung oder bei der inneren Sicherheit.

Die Kritik an den Hilfspaketen für Griechenland nimmt in der Union zu

Die Berliner Koalition richtet sich deshalb darauf ein, dass Athen am Ende doch noch einlenkt – und der Bundestag in einer Sondersitzung Ende Juni das veränderte Hilfsprogramm durchwinkt. Die Mehrheit steht, doch schon beim letzten Mal stimmten fast 30 Unionsleute gegen neue Hilfen, diesmal dürften es noch mehr sein. Merkel ist darauf angewiesen, dass Schäuble loyal ihren Kurs stützt. Aber ihr Konflikt ist damit nicht beendet. Nach dem kurzfristigen Kreditprogramm braucht Griechenland im Herbst ein weiteres Hilfspaket, um eine Finanzierungslücke von 35 Milliarden Euro zu schließen. Koalitionsexperten sprechen bereits offen von der Möglichkeit, dass Athen einen Teil der Schulden nicht mehr zurückzahlen wird.