Istanbul. Erdogans AKP verliert die absolute Mehrheit. Wird aus den bisher zerstrittenen Parteien keine Koalition gefunden, stehen Neuwahlen an

Sechs Wochen lang gönnte sich Präsident Recep Tayyip Erdogan keine Ruhepause. Jeden Tag trat er vor der Parlamentswahl in der Türkei auf, oft sogar mehrfach. Seine Energie konzentrierte Erdogan darauf, vor den Massen für eine „Neue Türkei“ mit ihm als potenziell allmächtigem Präsidenten zu werben und gegen die Opposition zu wettern. Am Sonntag erteilten die Wähler Erdogan und seiner islamisch-konservativen AKP eine Abfuhr. „Da hast Du die Neue Türkei“, titelte die Zeitung „Cumhuriyet“ am Montag schadenfroh. Die AKP-feindliche „Zaman“ meinte: „Die Nation hat gesagt: Es reicht“.

Nach vorläufigen inoffiziellen Ergebnissen kam die AKP auf 40,9 Prozent der Stimmen – nach knapp 50 Prozent vor vier Jahren. Grund für den Verlust der absoluten AKP-Mehrheit ist der Einzug der pro-kurdischen HDP ins Parlament. Sie hat mit rund 13 Prozent der Stimmen erstmals die Zehn-Prozent-Hürde überwunden. An zweiter Stelle lag die Mitte-Links Partei CHP (rund 25 Prozent), die ihr Ergebnis von 2011 fast halten konnte. Die ul­trarechte MHP legte zu und kam auf gut 16 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag nach Angaben des Senders CNN Türk bei rund 84 Prozent.

Niemand polarisiert die Türkei so sehr wie Erdogan. Dass er nach seiner Wahl zum Staatsoberhaupt einen „gesellschaftlichen Aussöhnungsprozess“ versprach, wirkt rückblickend wie Hohn. Doch nach dem Wahldebakel vom Sonntag war von dem aufbrausenden, polternden Präsidenten – dem egal war, ob er mit seinem Wahlkampf die Verfassung verletzte – nichts zu sehen. Der Terminkalender auf seiner Homepage war am Montag erstmals seit dem 26. April gähnend leer. In einer knappen Mitteilung, in der Erdogan ganz staatsmännisch klang, rief er die Parteien zu „verantwortlichem Handeln“ auf. Sicherheit und Stabilität des Landes müssten geschützt werden.

Das Ergebnis dürfte der Türkei allerdings tatsächlich politisch und wirtschaftlich instabile Zeiten bescheren, auch wenn die Wahl ein Sieg der Demokratie war. Die pro-kurdische HDP – die antrat, Erdogan zu stoppen – wirbelt das System durcheinander. Das AKP-Ziel, die Verfassung zu ändern und Erdogans Präsidialsystem einzuführen, ist in weite Ferne gerückt.

AKP-Chef und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu ging in seiner Ansprache mit keinem Wort darauf ein, dass seine Partei rund neun Prozentpunkte Verlust eingefahren hat. Er betonte, auch aus dieser Wahl sei die AKP „als Sieger hervorgegangen“. Kommentatoren in den Wahlsendungen fragten sich, ob der farb- und glücklose Parteivorsitzende die Ergebnisse überhaupt zur Kenntnis genommen habe.

Die AKP kann nun eine Minderheitsregierung bilden, die von einem Teil der Opposition toleriert werden müsste, die dafür ihrerseits kaum einen Grund finden dürfte. Oder sie muss sich einen Koalitionspartner unter den Parteien suchen, die Erdogan bis zur Wahl noch aggressiv bekämpfte. Mit Schrecken erinnern sich ältere Türken an die instabilen Koalitionen vor der AKP-Ära. Gelingt dem Parlament binnen 45 Tagen keine Regierungsbildung, droht das Szenario, das das AKP-Sprachrohr „Yeni Safak“ auf seiner Titelseite in großen Lettern voraussagte: „Vorgezogene Neuwahlen“.

Die HDP hat eine Koalition mit der AKP ausdrücklich ausgeschlossen. ein Zusammengehen der kemalistischen Mitte-Links-Partei CHP mit der islamisch-konservativen AKP ist unwahrscheinlich. Die größten Schnittmengen gibt es – etwa bei den Themen Nationalismus und Religion – mit der ultrarechten MHP.

„Das wahrscheinlichste Szenario ist eine Koalitionsregierung aus AKP und MHP“, sagt die Direktorin des Zentrums für Türkeistudien am Nahost-Institut in Washington, Gönül Tol. „Wenn es dazu kommt, glaube ich, dass der Friedensprozess (mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK) das erste Opfer sein wird. Sollte es zu dieser Koalition kommen, wird es Chaos geben.“ Die MHP will den Friedensprozess sofort beenden, den die frisch ins Parlament gewählte HDP mit allen Kräften vorantreiben will.

Bei den Türken in Deutschland hat die AKP eine absolute Mehrheit gewonnen

Für Erdogan bedeutet jede Koalition Einflussverlust. Regierungspartner werden sich von ihm nicht in der Art und Weise herumkommandieren lassen, wie es die ihm bislang bedingungslos ergebene AKP tut. MHP-Chef Devlet Bahceli forderte Erdogan schon dazu auf, über einen Rücktritt nachzudenken. Doch soweit ist Erdogan noch lange nicht. „Er wird das nicht kampflos hinnehmen“, sagt der Türkei-Experte Gareth Jenkins. „Er wird weiterhin versuchen, Macht anzuhäufen. Und wir werden keine politische Stabilität erleben.“ Dennoch glaubt Jenkins, dass bereits mit den landesweiten Gezi-Protesten vor zwei Jahren das Ende der Ära Erdogan begonnen habe.

Anders als in der Türkei hatte die AKP bei den Türken in Deutschland eine absolute Mehrheit gewonnen. Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu stimmten rund 53 Prozent der hier lebenden Türken für die AKP. Die HDP bekam rund 18,7 Prozent.

Seite 2 Leitartikel: Hat Erdogan verstanden?