Bielefeld. Der dienstälteste Fraktionschef des Bundestags nimmt seinen Abschied. Als Abgeordneter bleibt er der Linken erhalten

Das also ist der Satz, auf den sie das ganze Wochenende gewartet haben. Parteitag der Linken, Stadthalle Bielefeld, Sonntag, Punkt 13.30 Uhr: Vorn am Pult, vor der roten Wand, steht ein kleiner Mann im schwarzen Anzug, der seit mehr als 25 Jahren die gleiche Brille trägt und fast genauso lange zum Spitzenpersonal der deutschen Politik gehört.

Und dann sagt Gregor Gysi gleich im ersten Satz, woran die meisten hier bis jetzt nicht so richtig glauben wollten. „Heute spreche ich letztmalig als Vorsitzender unserer Bundestagsfraktion auf einem unserer Parteitage.“ Und fügt hinzu: „Ich werde nicht erneut kandidieren, da die Zeit gekommen ist, den Vorsitz unserer Fraktion in jüngere Hände zu legen.“

Gysi ist ein Meisterredner, aber nüchterner geht es kaum. Kein Stöhnen geht durch den Saal. Keine Hand rührt sich zum Applaus. Keiner weint. Alle haben seit Wochen darüber spekuliert, dass er seinen Abschied nimmt. Aber dass Gysi das gleich zu Beginn seiner Rede verkündet, das überrascht nun doch fast alle. Es dauert, bis die mehr als 450 Delegierten begreifen, was hier gerade geschieht.

Für die Linke mit ihren 60.000 Mitgliedern in Ost und West ist das ein enormer Umbruch. Gysi hat die Partei über ein Vierteljahrhundert geprägt wie kein anderer – unabhängig davon, wie sie gerade hieß und ob er gerade Partei- oder Fraktionschef oder überhaupt nichts war. Das geht so seit Dezember 1989, als die Mauer eben erst gefallen war und Gysi sich zum Vorsitzenden der DDR-Einheitspartei SED wählen ließ.

Zwischendurch, im Jahr 2000, verkündete er schon mal seinen Abschied aus der Politik. Das hielt nicht lange. Diesmal wird es anders sein. Gysi ist inzwischen 67. Er hat einen Hörsturz, eine Hirnoperation und drei Herzinfarkte hinter sich. Der Sohn aus erster Ehe ist inzwischen Mitte 40, der Adoptivso­hn und die Tochter aus der zweiten Ehe sind auch schon erwachsen. Und jetzt: Rente mit 67?

Es gibt nicht wenige in der Partei - und darüber hinaus –, die glauben, dass Gysi ohne Politik einsam ist. In den 50 Minuten Rede geht er darauf ein. „Ich habe viel zu wenig Freundschaften gepflegt, ich hatte viel zu wenig Zeit für meine Angehörigen. Das lag an mir. Weil ich zu selten Nein sagte, mich einfach zu wichtig nahm. Bei meinen Angehörigen, meinen Freundinnen und Freunden möchte ich mich aufrichtig entschuldigen. Es tut mir sehr, sehr leid.“ Dabei bricht ihm die Stimme weg. Erst nach einem Schluck Wasser kann er weitermachen.

Gysi verspricht, dass er loslassen will. Er werde „nicht heimlich versuchen, die Fraktion auf indirekte Art weiter zu leiten“. Abgeordneter will er bleiben, bis 2017. Ob auch darüber hinaus, das werde nächstes Jahr entschieden. Zu den Spekulationen über eine rot-rot-grüne Koalition nach 2017 sagt Gysi, er habe aber „nicht die geringste Absicht, Bundesminister zu werden, wirklich nicht“. Trotzdem werden ihm das nicht alle glauben.

Insgesamt war der Parteitag ohnehin von Abgrenzung zu SPD und Grünen geprägt. Parteichef Bernd Riexinger meint, Rot-Rot-Grün müsse „einen wirklichen Politikwechsel vollziehen und nicht nur einen Regierungswechsel“. Er sprach der SPD in ihrer derzeitigen Verfassung jede Bündnisfähigkeit für Rot-Rot-Grün ab. Der einzige Linke-Ministerpräsident, Bodo Ramelow aus Thüringen, mahnte hingegen: „Regieren ist kein Selbstzweck. Nicht regieren ist auch kein Selbstzweck.“

Was sicher ist: An der Spitze der Fraktion wird es nun wieder ein Doppel geben. Nicht mehr Ost und West, wie früher Gysi und Oskar Lafontaine, aber Frau und Mann, linker Flügel und Reformer. Dazu gibt es auch schon einen Parteitagsbeschluss. Gysi wehrte sich jedoch erfolgreich dagegen, dass seine Macht beschnitten wird.

Die Wahl findet nun nach der Sommerpause statt, zur Mitte der Legislaturperiode, am 13. Oktober. Die Entscheidung über die künftigen Oppositionsführer – die Linke hat im Bundestag einen Sitz mehr als die Grünen – liegt bei den insgesamt 64 Abgeordneten. Das Vorschlagsrecht hat die Partei. Sie will rasch „liefern“.

Die naheliegendste Variante wären Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch. Sie: 45, aus dem Osten, radikale Linke mit hohem Promi-Faktor, nicht nur, weil sie mit Ex-Parteichef Lafontaine verheiratet ist. Er: 57, ebenfalls aus dem Osten, auch er ein Machtmensch, aber ein Reformer. Beide haben in den eigenen Reihen erbitterte Gegner, wären als Tandem aber wohl zu vermitteln.

Am Ende kommt er doch noch,der Moment der großen Gefühle

Ein Problem ist nur, dass Wagenknecht erst im März erklärt hatte, dass sie nicht mehr Fraktionschefin werden wolle. Als Grund gab sie damals nicht das schlechte Verhältnis zu Gysi an, sondern, nach der internen Niederlage in einer Griechenland-Entscheidung, mangelnden Rückhalt in der Fraktion. Jetzt müsste sie erklären, warum sie ihre Meinung so schnell ändert. Ihr dürfte das nicht allzu schwer fallen. Zumal sich auch schon die ersten Reformer für sie stark machen. Wagenknecht und Bartsch selbst sagen dazu erst einmal nichts. Aber sie werden sich wohl in den nächsten Tagen erklären.

Denn noch ist dies die Stunde von Gregor Gysi. Am Ende kommt er doch noch, der Moment der großen Gefühle, nach seinem Appell „Macht aus alledem was draus!“, dem Dank an die Partei und an die Familie. Der Saal erhebt sich und klatscht, zehn Minuten lang. Bis sich Gysi zurück in die erste Reihe setzt: ein kleiner Mann, seit einem Vierteljahrhundert in der Politik, gleiches Brillenmodell wie damals.