Istanbul. Türken wählen am Sonntag neues Parlament. Kritiker nennen Präsidenten einen Diktator

Derjenige, um den es bei der Parlamentswahl in der Türkei vor allem geht, tritt gar nicht an: Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan steht nicht zur Wahl, auch wenn er im Wahlkampf kräftig mitgemischt hat. Ausgerechnet auf das Ergebnis der kleinsten Oppositionspartei im Parlament – der pro-kurdischen HDP – wird diesen Sonntagabend jeder im Land gebannt starren. Die HDP war schon mehrfach Ziel von Anschlägen. Am Freitagabend ereigneten sich auf der Schlusskundgebung der Partei in Diyarbakir zwei Explosionen noch unklarer Ursache, bei denen zwei Menschen getötet und mehr als hundert verletzt wurden. Vom Abschneiden der HDP könnte der weitere Kurs der Türkei abhängen – und die Frage, ob Erdogan zum allmächtigen Präsidenten wird.

Die Rechnung geht so: Gelingt es der HDP, die Zehnprozenthürde zu überwinden, könnte die islamisch-konservative AKP nicht nur ihre absolute Mehrheit verlieren. Vor allem wäre es dann so gut wie ausgeschlossen, dass die AKP alleine 60 Prozent der Sitze im Parlament in Ankara gewinnt. Diese Mehrheit von 330 Abgeordneten ist aber notwendig, um die von der AKP angestrebte Volksabstimmung über eine Verfassungsreform in die Wege zu leiten. Das Ziel: Die Türkei soll ein Präsidialsystem erhalten – mit Erdogan an der Spitze.

Wie das System aussehen soll, welche Rolle darin das Parlament spielen soll, ob es dann noch einen Ministerpräsidenten geben soll – dazu machen weder die AKP noch Erdogan konkrete Angaben. Erdogan sagt lediglich, mit einem solchen System werde es möglich sein, „viel schneller Entscheidungen zu treffen“. Oppositionspolitiker befürchten, dass Erdogan nach einer Verfassungsreform zum uneingeschränkten Machthaber wird. HDP-Chef Selahattin Demirtas warnt gar vor einer „Diktatur“. Die Angst vor einem übermächtigen Präsidenten Erdogan geht auch im Westen um. Dabei war Erdogan einst Hoffnungsträger. Über Jahre hinweg schien er – noch als Ministerpräsident – zu beweisen, dass es eine funktionierende islamische Demokratie in der Region doch geben kann. Er bemühte sich um die EU-Mitgliedschaft, obwohl die Union den Kandidaten vor der Tür stehen lässt. Inmitten der chaotischen Umbrüche in der arabischen Welt war der Nato-Partner Türkei ein Anker der Stabilität. Nach rund 30 Jahren Bürgerkrieg begann er einen Friedensprozess mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK.

Unter der AKP erzielte die Türkei große wirtschaftliche Fortschritte – ein wesentliches Argument dafür, warum die von Erdogan mitgegründete Partei seit 2002 bei jeder Parlamentswahl stärkste Kraft wurde. Die Türkei legte Wachstumsraten hin, die die kriselnden EU-Staaten vor Neid erblassen ließen. Die AKP bekämpfte die Armut und stärkte die Sozialsysteme, förderte die Wirtschaft und baute die Infrastruktur aus. Städte wie Istanbul haben ein stetig wachsendes U-Bahn-Netz, Flughäfen schießen fast wie Pilze aus dem Boden. Doch im Schatten der Fortschritte wurde Erdogans Regierungsstil immer autoritärer. Die Gezi-Proteste im Sommer 2013 ließ er von der Polizei niederknüppeln. Auf Korruptionsermittlungen reagierte die Regierung, indem sie unbequeme Polizisten und Staatsanwälte entmachtete. Die Außenpolitik unter dem Motto „Null Probleme mit den Nachbarn“ ist gescheitert, und nicht nur mit den Nachbarn gibt es massig Probleme: Der EU-Beitrittsprozess liegt auf Eis, das Verhältnis zwischen Berlin und Ankara ist frostig. Auch die Wirtschaft läuft längst nicht mehr rund. Der Friedensprozess mit der PKK droht ebenfalls zu scheitern.

Im August ließ Erdogan sich zum Präsidenten wählen. Als Regierungs- und AKP-Chef von Erdogans Gnaden wurde sein Gefolgsmann Ahmet Davutoglu installiert. Dabei ist jedem klar, wer tatsächlich die Strippen zieht: Erdogan. Bezeichnend war der freudsche Verschreiber, den sich der Staatssender TRT bei der Eröffnung des Flughafens Yüksekova durch Erdogan und Davutoglu leistete: „Staatspräsident Erdogan und Ministerpräsident Erdogan führen die Eröffnung durch“, stand unten am Bildschirmrand. In den vergangenen Wochen betrieb Erdogan kräftig Wahlkampf, auch wenn die Auftritte etwa als Einweihungsfeiern kaschiert wurden. Die Opposition ging er dabei meist wenig staatsmännisch an, teilte gegen die „armenische Lobby“, gegen Homosexuelle und kritische Journalisten aus. Zwar schreibt die Verfassung dem Präsidenten Neutralität vor. Aus Erdogans Sicht hat er als erstes vom Volk gewähltes Staatsoberhaupt aber jederzeit das Recht, sich öffentlich zu äußern. Zudem herrscht er mit eiserner Hand. „Im Beamtenapparat gibt es niemanden, der keine Angst vor dem Präsidenten hat“, sagte Demirtas. Mit der Verfassungsänderung will Erdogan seine Macht nun noch ausweiten – und sie absichern.