Berlin. Der Fraktionschef der Linken will sein Amt aufgeben und die Partei auf eine rot-rot-grüne Koalition 2017 vorbereiten

Hört Gregor Gysi auf? Die Frage treibt die Linksfraktion im Bundestag um. Es heißt, dass er im Herbst nicht wieder für den Vorsitz kandidieren will. Gysi hat „ein bestimmtes Ritual im Kopf“, heißt es in der Partei. Im Fall des Falles würde er erst einen Parteitag informieren, dann die Medien. Ein Dementi klingt anders. Bielefeld, 7. Juni, 13 Uhr, Showtime: Gysis Rede. Auftritt eines Solitärs. Danach wird der Parteitag beendet.

Wer ihm in diesen Tagen begegnet, erlebt einen Mann mit Anflügen von Nostalgie. Dann erinnert Gysi daran, wie mühsam die Anfangsjahre waren und wie groß die gesellschaftliche Akzeptanz inzwischen ist. Früher bereitete es schon Mühe, so Gysi, von den Gewerkschaften eingeladen zu werden. Jetzt redet er sogar vor Unternehmern. An der Entwicklung habe er einen gewissen Anteil, „ein bisschen Stolz darauf“ sei er auch. Der Mann ist jetzt 67 Jahre alt und auf dem Höhepunkt der Popularität. Heute sei ein Bundestag ohne Linke kaum vorstellbar, „das war mal umgekehrt“. Für einen Absprung wäre es der optimale Zeitpunkt.

Viele in der Partei sähen es ungern, wenn Gysi privatisieren würde. Die Nachfolge an der Fraktionsspitze ist ungeklärt. Flügelkämpfe fürchtet die Partei vor allem im Osten. In Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt stehen 2016 Wahlen an. Ihre Landesvorsitzenden haben in einem Gespräch mit Gysi versucht, ihm die Ausstiegspläne auszureden. Schon wird ein Plan B erörtert. Dann würde Gysi zwar den Fraktionsvorsitz abgeben, sich aber in Bielefeld die Option auf eine Spitzenkandidatur bei der Bundestagswahl offenhalten.

Womöglich sind die Gerüchte nur ein raffinierter Plan, um die Linke zu disziplinieren und den Fokus auf Gysis Auftritt zu lenken, auf die Ruckrede, die er sich für Bielefeld vorgenommen hat. Die wird vom Reifeprozess handeln, den seine Partei durchgemacht hat, von der Akzeptanz, die sich spätestens mit der Wahl von Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten in Thüringen einstellte. Sie hat symbolisch fast eine so hohe Bedeutung wie die erste rot-grüne Regierung in Hessen.

Hier enden die Parallelen. Längst sind die Grünen eine feste Größe im parlamentarischen System und im Prinzip regierungsfähig und -willig. Da ist die Linke anders. Die einen hätten die Sorge um die Identität der Partei, sie fürchten jede Anpassung. Die anderen sähen die Chance, was zu verändern, erzählt Gysi. „Das müssen wir lernen, wenn wir reif werden wollen.“

Gerade erst sagte er dem „Neuen Deutschland“: „Man muss regieren wollen.“ Der Fraktionschef will, dass in der Bevölkerung der Wunsch nach einem Politikwechsel entsteht, und zwar nicht trotz, sondern wegen der Linken. Er will auch, dass die Leute ihr abnehmen, dass sie im Westen angekommen sei, „dass wir für Freiheit und Demokratie stehen, was ein bisschen schwer ist mit unserer Vergangenheit“.

Gysi spekuliert auf ein Bündnis mit SPD und Grünen 2017 im Bund. Die Grundannahme ist, dass Sigmar Gabriel für die SPD antreten und nicht den Fehler seiner Vorgänger wiederholen wird, ohne Machtoption in den Wahlkampf zu ziehen. Er hat rechnerisch nur zwei realistische Möglichkeiten: ein Bündnis mit FDP und Grünen oder Rot-Rot-Grün. Es gibt entsprechende Gesprächskreise und auch Kontakte zwischen den Führungsleuten. Zum Beispiel hat Gabriel vor der Wahl in Thüringen ausführlich mit Ramelow gesprochen. Die Verteidigungspolitik gilt nicht mehr als Haupthindernis. Neue Auslandseinseinsätze der Bundeswehr zeichnen sich nicht ab. Das größte Problem sieht Gysis Umfeld in der „Verteilungsfrage“, in der Sozial- und Steuerpolitik. Hier ist vielleicht nicht mehr die SPD der sperrigste Partner, sondern die Grünen, deren Klientel zu den Besserverdienenden gehört. Wie sich die Grünen verhalten werden und ob sie im Zweifel 2017 nicht lieber mit der Union regieren würden, gehört zu den offenen Fragen, die auch ein Gysi nur bedingt beeinflussen kann.

Die Partei braucht eine Frau aus dem Westen als Gysi-Nachfolgerin

Der eigenen Partei mutet Gysi viel zu, nicht nur eine andere Haltung zur Macht, sondern auch zur SPD, die der gefühlte Lieblingsgegner ist. „Wir müssen lernen: Das Gegenüber ist die Union“, sagte er dem „Neuen Deutschland“. Was Gysi vorschwebt, wäre eine Anti-Merkel-Front und was Parteifreunde schon 2016 bei den Landtagswahlen für möglich halten: „Mehrheiten jenseits der Union.“

Eines könnte die Neuvermessung der Linken stören: Gysis Nachfolge. Im gemäßigten Flügel fällt der Name von Gysis Stellvertreter Dietmar Bartsch. Die stärkste Vertreterin des linken Flügels, Sahra Wagenknecht, will nicht antreten. Gesucht wird eine Frau aus dem linken Flügel, als Gegenpart zum Mecklenburger Bartsch am besten eine West-Genossin. Wenn es nicht gelingt, die Nachfolge überzeugend zu regeln, würde Gysi mit einem Rückzug seine Partei nicht beflügeln, sondern Richtungskämpfe auslösen.