Münster. Wohlstand und Individualisierung mindern in der westlichen Welt Einfluss von Kirchen und Glauben

Durch wachsenden Wohlstand und zunehmende Individualisierung nimmt die Religiosität in der westlichen Welt einer Studie zufolge kontinuierlich ab. Dabei verließen die Gläubigen die Kirche weniger aus konkreten Gründen, sondern weil sie ihnen gleichgültig geworden sei, heißt es in einer am Freitag vorgestellten Untersuchung des Münsteraner Religionssoziologen Detlef Pollack. Daher könnten Gegenmaßnahmen der Kirchen wenig gegen diesen Trend ausrichten. Auch alternative, spirituelle Angebote außerhalb der Kirche wie etwa die Esoterik verzeichnen demnach nur schwache Zuwächse.

Neben einem hohen Wohlstandsniveau und zunehmender kultureller Vielfalt wirkt sich laut der Studie auch der Ausbau der Sozial- und Bildungssysteme negativ auf die Religiosität aus. Oftmals bestehe dadurch keine Notwendigkeit mehr, kirchliche Kanäle zu nutzen. In konfessionell eher geschlossenen Ländern wie Polen, Italien oder Irland habe die Religion dagegen nach wie vor einen weitaus höheren Stellenwert als etwa in den religiös pluralen Niederlanden.

Positiver falle die Bilanz für die Religiosität dagegen aus, wenn religiöses Leben in Gemeinschaften eingebettet sei. Auch eine Verbundenheit religiöser Inhalte mit politischen, nationalen oder wirtschaftlichen Interessen könne sich positiv auswirken. Als Beispiele nennen die Autoren Rituale wie etwa die Vereidigung des US-Präsidenten auf die Bibel oder das Gebet im Abgeordnetenhaus des Landes. Kämen sich Religion und Politik dagegen zu nahe, wachse die Abwehrhaltung der Bürger an. Auch in Gegenden, in denen sich Minderheiten gegenüber einer andersgläubigen Mehrheit behaupten müssen, stellten die Forscher eine engere Bindung an die Religion fest.

Für die Untersuchung werteten Pollack und sein Kollege Gergely Rosta den Angaben zufolge Datensätze aus Italien, den Niederlanden, Deutschland, Polen, Russland, den USA, Südkorea und Brasilien seit 1945 aus. Laut der Universität Münster ist sie damit eine der umfassendsten empirischen Studien zu religiösen Trends in der Moderne. Dass die Kirchen irgendwann nur noch den Status von Sekten haben werden, sei aber absehbar, sagte Pollack. „Der Bedeutungsrückgang ist viel mehr ein sehr langsamer, schleichender Prozess, der schon seit Jahrzehnten andauert. Die Austrittszahlen sind zudem mit unter einem Prozent nicht dramatisch“, fügte er hinzu. Die Kirche lebe noch stark von ihrer Vergangenheit, von ihrer Verankerung in den Familien und der Kultur. „Doch diese Tradition verliert an Bedeutung, nicht sprungartig, aber man kann sagen, geradezu mit der Regelmäßigkeit eines Uhrenschlages.“

Die Kirchen seien dieser Abwendung der Gläubigen häufig machtlos ausgeliefert, sagte Pollack. Kirche behaupte sich dort, wo sie sich mit nicht-religiösen Dingen verbindet und so in die Gesellschaft rage. „Konfessionelle Schulen oder Kindergärten sind beispielsweise relativ stark nachgefragt, weil es dort eben nicht nur allein um das Seelenheil, sondern auch um Bildung und Erziehung geht“, erläutert Pollack. Auch wenn Religion zu einem Medium für politischen Protest werde, kann sie an Bedeutung gewinnen. Mischt sich Kirche gesellschaftlich ein, muss das aber mit ihrer Kernkompetenz, zum Beispiel Nächstenliebe, in Verbindung stehen, sonst überzieht die Kirche ihr Konto.