Berlin. Die geplante Entlastung der Bürger ab 2016 bringt dem Einzelnen zunächst wenig – erst später wird der Effekt größer

Lange hatte Wolfgang Schäuble die Forderungen nach einer kleinen Steuerentlastung für Arbeitnehmer als Scheindebatte vom Tisch gewischt: Es gehe doch nur um ein paar Tassen Kaffee für den Einzelnen, meinte der Finanzminister noch Anfang des Jahres. Doch angesichts neuer Milliarden-Mehreinnahmen für den Fiskus gönnen der CDU-Politiker und die Spitzen der Koalition jetzt auch den Steuerzahlern etwas mehr im Portemonnaie: Anfang 2016 soll die „kalte Progression“ – die heimliche Steuererhöhung nach Lohnerhöhungen – abgemildert und danach alle zwei Jahre korrigiert werden, wie Schäuble am Donnerstag bei der Bekanntgabe einer neuen Steuerschätzung überraschend verkündete.

Die kleine Reform wird Bund, Länder und Kommunen jährlich zunächst nur rund 1,5 Milliarden Euro kosten, Durchschnittsverdiener werden wohl einen Betrag von weniger als zehn Euro im Monat sparen – aber über die Jahre wird der Effekt spürbar größer. „Es ist für den Einzelnen keine große Entlastung, aber es geht um das Prinzip“, erklärte Schäuble. Und der Zeitpunkt sei günstig, denn der Reformeinstieg sei leicht bezahlbar. Schließlich sagt die von Schäuble vorgelegte Steuerschätzung Bund, Ländern und Kommunen in diesem Jahr rund 6,3 Milliarden Euro bisher nicht erwartete Mehreinnahmen voraus, von 2016 bis 2019 sollen es sogar jährlich rund acht Milliarden Euro zusätzlich sein.

Die Kosten für die Reform scheinen da auch für die Länder verkraftbar: Mit einer Mehrheit im Bundesrat, wo rot-grüne Länder im Jahr 2012 einen ähnlichen Vorstoß noch gestoppt hatten, wird daher fest gerechnet.

Schäubles Ankündigung, die mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) abgestimmt war, traf jedenfalls durchweg auf positive Resonanz, auch in der Opposition. Gabriel erklärte, der wirtschaftliche Aufschwung komme so auch bei den Arbeitnehmern an. Der Bund der Steuerzahler zeigte sich ebenfalls zufrieden: „Unser beharrliches Drängen hat sich gelohnt, das ist ein guter Tag für den Steuerzahler“, sagte Verbandspräsident Reiner Holznagel dem Abendblatt.

Auch wenn die Entlastung zunächst gering erscheine, handele es sich um eine wichtige Entscheidung, weil künftige heimliche Steuererhöhungen vermieden würden. Denn darum geht es bei der „kalten Progression“: Die Tarife bei der Einkommensteuer sind seit 2010 unverändert geblieben. Selbst wenn Löhne nur an die Inflation angepasst werden, unterm Strich also nicht mehr im Geldbeutel bleibt, rutscht der Arbeitnehmer in einen höheren Tarif und zahlt mehr Steuern. Unter dem Strich also hat der höhere Verdienst lediglich eine höhere Steuerlast beschert.

Schäubles Reform sieht nun vor, dass der Steuertarif alle zwei Jahre an die Inflation angepasst wird – höhere Steuersätze würden erst bei höheren Einkommen greifen. Im ersten Schritt ab Anfang Januar 2016 denkt Schäuble nun an eine Anpassung um 1,5 Prozent entsprechend der Preissteigerung. Der Entlastungseffekt für die Steuerzahler bleibt überschaubar.

Allerdings: Würde man die „kalte Progression“ rückwirkend ab 2010 abbauen, würden die Steuerzahler jetzt schon um acht Milliarden Euro entlastet, was für Arbeitnehmer im Durchschnitt mehrere hundert Euro ausmachte. Diese rückwirkende Entlastung fordert nun Steuerzahler-Präsident Holznagel.

Der Steuerzahlerbund verlangt eine Entlastung rückwirkend ab 2010

Und er verlangt weitere Korrekturen: Angesichts der erwarteten Mehreinnahmen sei es zu wenig, wenn der Fiskus nun lediglich 1,5 Milliarden Euro an die Steuerzahler zurückzahle. „Wir brauchen eine wirkliche Steuerentlastung im Zuge einer umfassenden Reform und mit schneller Abschaffung des Solidaritätszuschlags.“ Der Spielraum wäre da, glaubt Holznagel. Wegen der guten Konjunktur und des stabilen Arbeitsmarktes soll das Steueraufkommen von Bund, Ländern, Kommunen und Europäischer Union gemeinsam laut der neuen Schätzung bis zum Jahr 2019 auf 760 Milliarden Euro jährlich steigen – Bürger und Unternehmen würden damit fast ein Fünftel mehr an den Fiskus überweisen als heute.

Die Mehreinnahmen des Bundes im laufenden Jahr hat Schäuble schon verplant, vor allem für zusätzliche Investitionen und die Entlastung der Kommunen. Die Begehrlichkeiten sind groß: In der Union wird eine zusätzliche Anhebung des Kindergelds diskutiert, Verteidigungspolitiker erwarten eine spürbare Aufstockung des Rüstungsetats. Länder und Kommunen fordern mehr Hilfen vom Bund für die Bewältigung des Flüchtlingsstroms und werden das beim heutigen Flüchtlingsgipfel im Kanzleramt mit Hinweis auf die absehbar gute Kassenlage absehbar noch vehementer tun. Die Grünen schlugen schon am Donnerstag ein Investitionspaket in Höhe von 45 Milliarden Euro vor, das vor allem für Bildung, Internetverbindungen, Verkehr und Klimaschutz verwendet werden soll.

Der Bundesfinanzminister aber will das Geld zusammenhalten, schließlich muss sich der Bund auch noch mit den Ländern über eine grundsätzliche Neuverteilung der Finanzen ab dem Jahr 2020 verständigen. Ziel der Unionsspitze ist es dabei, im nächsten Jahrzehnt den Solidaritätszuschlag abzubauen. Hätte Schäuble aber jetzt nicht von sich aus die Steuerschraube ein wenig zurückgedreht, wäre der Druck aus der Koalition wohl zu groß geworden – die Rufe aus der Union, der SPD und den Gewerkschaften wurden zuletzt lauter.

SPD-Chef Gabriel lässt für den Wahlkampf 2017 bereits ein Steuerkonzept erarbeiten, das vor allem Familien und die Mittelschicht um Milliarden entlasten soll. Die kleine Reform, da sind sich Union und SPD einig, soll nur der Anfang gewesen sein.