London. Die Bildung einer Koalition im Unterhaus dürfte eine komplizierte Angelegenheit werden

Die Queen hat sich schon einmal abgesetzt und auf ihr Schloss Windsor zurückgezogen. Sie wird in den nächsten Wochen tunlichst vermeiden, in London zu weilen. Der Grund: Das königliche Staatsoberhaupt möchte möglichst viel Abstand zu den Politikern in Westminster halten. Unter allen Umständen gilt es zu vermeiden, das Gebot politischer Neutralität zu verletzen und sich hineinziehen zu lassen in den Streit, wer in der Downing Street 10 residiert.

Der Palast weiß, dass in den nächsten Wochen ein heilloses Gezänk die politischen Debatten in Großbritannien dominieren wird. Denn wenn die Briten heute zum Frühstück die Zeitung aufschlagen, werden sie vielleicht erfahren, wer die Wahl gewonnen hat, wer die meisten Stimmen und vielleicht auch, wer die meisten Direktmandate gewonnen hat. Doch sie werden sehr wahrscheinlich noch nicht erfahren, wer sie künftig regiert. Wahlforscher sprachen zuvor von der „knappsten Wahl seit Jahrzehnten“ in den insgesamt 650 Wahlkreisen. Die rund 50.000 Wahllokale öffneten um 8 Uhr und schlossen erst um 23 Uhr.

Die derzeit in einer Koalition mit den Liberaldemokraten regierenden Konservativen (Torys) und die oppositionelle Labour-Partei lagen in Umfragen bis zum Schluss gleichauf. Vielleicht können die Torys – wie bei den Unterhauswahlen 2010 – einige Sitze mehr als die Soziademokraten erringen. Aber für eine absolute Mehrheit reicht es keinesfalls. Der Streit darüber, wer in einer solchen Situation das Recht auf eine Regierungsbildung hat, wird bereits seit Wochen geführt.

Eher konservative Zeitungen wie die „Daily Mail“, aber auch die „Times“, haben in jüngster Zeit das Thema der „Legitimität“ aufgegriffen. Es sei nicht richtig, argumentierte man, wenn Labour die Wahl verliert – also weniger Sitze als die Konservativen erringt – und dann dennoch mit Hilfe anderer, kleinerer Parteien an die Macht kommt. Tory-Premierminister David Cameron hat den Schrecken einer Labour-Minderheitsregierung unter Parteichef Ed Miliband an die Wand gemalt, die von den schottischen Separatisten von der SNP geduldet wird. Das sei, legte er nahe, schlicht illegitim.

Ob Cameron seine Regierungskoalition allein mit den Liberaldemokraten weiterführen kann, ist fraglich. Er hat mit den Liberalen und möglicherweise der nordirischen Regionalpartei DUP deutlich weniger Bündnisoptionen als sein Herausforderer.

Tatsächlich würden es viele Briten nicht verstehen oder billigen, wenn ein Wahlverlierer in die Downing Street einzieht. Für sie scheint die Frage der Legitimität eine quantitative Dimension zu haben: Sollte Labour mehr als 20 Mandate weniger als die Torys bekommen, hätte in ihren Augen die Partei nicht das Recht zur Regierungsbildung. Stattdessen soll gelten: Wenn der Wählerwille die Konservativen zur stärksten Kraft macht, dann dürfen die auch regieren. David Cameron sieht das genauso. Sollte er, und wenn auch nur knapp, vor Labour liegen, wird er erst einmal als Premierminister weitermachen.

Auch wenn abzusehen wäre, dass er selbst mit Unterstützung der Liberaldemokraten und der nordirischen Unionisten keine parlamentarische Mehrheit zusammenbekommt, wird er doch versuchen, eine Minderheitsregierung zu führen. Der Test wird dann bei der Abstimmung über die vom Regierungschef geschriebene Thronrede der Queen, also das Regierungsprogramm, kommen. Erst wenn er dieses Votum im Unterhaus verliert, muss Cameron zurücktreten.

Und erst danach hätte Labour die Chance, eine Minderheitsregierung zu etablieren. Aber ihre Chancen sind sehr viel besser, weil die SNP sich schon festgelegt hat: Die schottischen Nationalisten werden, so haben sie hoch und heilig versprochen, in jedem Fall eine Tory-Regierung niederstimmen und würden Labour stützen.

Ein großer Erfolg der SNP wird allgemein erwartet. Der Partei wird im Norden von Großbritannien ein überwältigender Sieg mit mehr als 50 der 59 dort zu vergebenden Sitze vorausgesagt. Bisher konnte die SNP nur sechs Parlamentarier nach Westminster schicken. Mit Spannung wird auch das Abschneiden von Nigel Farages UKIP erwartet. Ihr werden zwar kaum Chancen eingeräumt, nach der Wahl politisch groß mitzumischen. Jedoch könnte die Partei, die Großbritannien aus der Europäischen Union lösen will, bis zu 15 Prozent der Stimmen bekommen.

Die Hängepartie um die Regierung könnte bis Mitte Juni dauern. Die konstitutionelle Lage ist eindeutig: Wer mehr Stimmen im Unterhaus kommandiert, darf regieren. Aber bevor das nicht in einem Misstrauensvotum zum Test gestellt wird, bleibt die Lage unklar. Auf die Briten kommen interessante Zeiten zu. Und die Queen wird weiterhin in Windsor bleiben wollen. Zur Wahl ging Elizabeth II. am Donnerstag ohnehin nicht. Das britische Wahlrecht hat zwar keine Klausel, die der Königin das Wahlrecht abspricht. Trotzdem gehen die Queen und ihre Familie nie wählen. Denn Aufgabe der Monarchie ist es, im Vereinigten Königreich Kontinuität zu stiften und die Gesellschaft zu einen – das verträgt sich nicht mit Parteinahme.