Berlin. Der Historiker hält heute im Bundestag die zentrale Rede zum 70. Jahrestag des Kriegsendes. Gauck gedenkt russischer Kriegsgefangener, Steinmeier reist nach Wolgograd

„Bis ans Ende aller Tage“, sagt Heinrich August Winkler, werden die Deutschen mit dem Holocaust konfrontiert werden. Der Zivilisationsbruch der NS-Zeit und der lange Weg zur westlichen Demokratie sind für den 76-Jährigen Lebensthemen. Mit Winkler redet am Freitag, dem 70. Jahrestag des Kriegsendes, ein Historiker im Bundestag, der eine unbequeme Warnung im Gepäck hat: Der deutsche Weg nach Westen, mahnt Winkler, „ist nicht so abgeschlossen, wie viele Optimisten geglaubt haben“.

Es ist ein Signal: Kanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Joachim Gauck lassen an diesem Freitag einem Mann den Vortritt, der einer der populärsten deutschen Historiker ist, und sich auch regelmäßig in die Tagespolitik einmischt: Regierung und Parlament müssten öfter Debatten über unpopuläre Wahrheiten führen – „daran hat es in den letzten Jahren zu oft gefehlt“, sagt SPD-Mitglied Winkler.

Pegida etwa, die in Sachsens Landeshauptstadt Dresden stark gewordene, angeblich islamkritische Bewegung „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“: Besorgt sieht der Historiker „altdeutsche Vorbehalte gegenüber der politischen Kultur des Westens“ und eine „merkwürdige Verklärung deutsch-russischer Gemeinsamkeiten“. Seine Forderung: Nichts schönreden – sondern „mit aller Schärfe widersprechen“.

30 Jahre nach Richard von Weizsäckers historischer Rede („Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“) gehört der Berliner Historiker zu denjenigen, die sich ein robusteres Eintreten für Freiheit und Demokratie wünschen: Der gebürtige Ostpreuße nennt das „Vorwärtsverteidigung“ der westlichen Werte. Beispiel Ukraine-Krise: Die Politik, kritisiert Winkler, müsse sich klarer von Putin abgrenzen. Eine friedliche Koexistenz mit Russland sei weiter möglich, die Hoffnung auf eine gemeinsame Wertegemeinschaft aber habe Putin zerstört.

In ganz Europa feiern in diesen Tagen Königshäuser, Staatschefs und Veteranen das Kriegsende und die Befreiung von der NS-Herrschaft – in Deutschland dagegen gibt es kein festes Zeremoniell zum 8. Mai. Mal sprach der Kanzler, mal der Bundespräsident. 1995, beim Staatsakt zum 50. Jahrestag des Kriegsendes, reisten die Staatschefs der Alliierten aus London, Paris, Moskau und Washington ins wiedervereinigte Deutschland.

Jetzt, in der außenpolitisch sensiblen Zeit zwischen Ukraine-Konflikt und Griechenland-Krise, spricht ein Wissenschaftler. Es ist ein eleganter Schachzug: Als Historiker muss Winkler keine diplomatischen Rücksichten nehmen und kann den Bogen spannen vom Weltkrieg über den Kalten Krieg bis zur aktuellen Kriegsgefahr in der Ukraine.

In Moskau unterdessen spielt Präsident Wladimir Putin unverhohlen mit den Muskeln: Die traditionelle Militärparade zur Erinnerung an den Sieg über Hitlerdeutschland soll in diesem Jahr die größte Waffenschau der jüngeren russischen Geschichte werden. Bundeskanzlerin Merkel meidet das Spektakel auf dem Roten Platz – wollte aber auch nicht komplett fernbleiben und damit die Spannungen im deutsch-russischen Verhältnis eskalieren: Jetzt reist die Kanzlerin erst am 10. Mai nach Moskau und wird gemeinsam mit Putin einen Kranz am Grabmal des unbekannten Soldaten niederlegen. Polen dagegen muss auf einen Besuch der Kanzlerin verzichten: Zur polnischen Gedenkfeier wird Altbundespräsident Horst Köhler reisen.

Auch Joachim Gauck verbeugt sich vor den sowjetischen Kriegstoten – wählt jedoch wie die Kanzlerin eine Geste, die Respekt ausdrückt, ohne dabei die sowjetische Besatzungspolitik oder die russische Tagespolitik gutzuheißen. Zum Besuch der Kriegsgräberstätte im brandenburgischen Lebus hat der Bundespräsident die Botschafter der Länder eingeladen, die damals Teil der Sowjetunion waren. Bereits gestern Mittwoch besucht Gauck zudem ein ehemaliges Kriegsgefangenenlager im westfälischen Schloss Holte-Stukenbrock.

Der deutsche Außenminister wird in diesem Jahr im ehemaligen Stalingrad erwartet: Frank-Walter Steinmeier reist am Donnerstag ins heutige Wolgograd, um an den Gedenkfeiern zum Kriegsende teilzunehmen. Geplant ist auch ein Treffen mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow. Die Schlacht um Stalingrad markiert den Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg: Nach monatelangen Kämpfen hatten hier die deutschen Truppen Anfang Februar 1943 vor der Roten Armee kapituliert.