Berlin/Istanbul. Die Abgeordneten zeigen keine Scheu, den Massenmord an den Armeniern beim Namen zu nennen – die Regierung zögert

Can Merey

Man kann, wenn man im Bundestag auf der Regierungsbank sitzt, alles Mögliche tun. Akten lesen oder die Zeitung. das Smartphone checken, ein Schwätzchen halten – oder ein Nickerchen. Alles schon dagewesen. Zuhören muss man jedenfalls nicht. Am Freitag, in der ersten Beratung über die umstrittene „Völkermord“-Erklärung des Bundestags zu den Massakern an bis zu 1,5 Millionen Armeniern vor 100 Jahren, war das jedoch ziemlich anders.

Zwar meldeten sich weder Kanzlerin Angela Merkel noch Außenminister Frank-Walter Steinmeier und auch kein anderes Kabinettsmitglied zu Wort. Aber so aufmerksam wie in diesen eineinviertel Stunden war die Regierungsbank selten. Es hat sich gelohnt: Die Debatte war eine von denen, die von der 18. Legislaturperiode des deutschen Parlaments vielleicht in Erinnerung bleiben.

Zuvor war es wochenlang um die Frage gegangen, ob der Bundestag die Massaker, die am 24. April 1915 im Osmanischen Reich ihren Anfang nahmen, überhaupt als Völkermord bezeichnen darf. Bislang gab es von offizieller deutscher Seite eine solche Einschätzung nicht – was vor allem daran lag, dass die Bundesrepublik den Nato-Partner Türkei nicht vergrätzen wollte. Die Türkei als Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs lehnt die Bezeichnung Völkermord vehement ab.

Am Freitag fiel das V-Wort jedoch ständig. Jeder einzelne Redner spricht von Völkermord – angefangen bei Bundestagspräsident Norbert Lammert. „Das, was mitten im Ersten Weltkrieg im Osmanischen Reich stattgefunden hat, unter den Augen der Weltöffentlichkeit, war ein Völkermord.“ Der CDU-Politiker bekannte sich auch zur deutschen Mitverantwortung. Das Deutsche Kaiserreich war damals enger Verbündeter des Osmanischen Reichs.

Ähnlich klar hatte sich am Abend zuvor schon Bundespräsident Joachim Gauck geäußert. Gauck wie Lammert bekamen am Freitag dafür viel Lob. Und auch sonst wurde deutlich, wie ernst es den Abgeordneten, über die Parteigrenzen hinweg, mit der Sache ist. Die Erklärung, auf die sich die Spitzen der drei Koalitionsparteien in langen Beratungen mit der Bundesregierung geeinigt hatten, gilt vielen noch immer als arg verdruckst.

In dem Papier wird das Schicksal der Armenier zwar als beispielhaft bezeichnet für die „Völkermorde, von denen das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist“. Das ist um einiges weniger als bei Lammert oder Gauck, wie nicht nur die Opposition findet. Die Linke-Abgeordnete Ulla Jelpke verlangte, mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan endlich „Klartext“ zu reden. „Dieses Versteckspiel hinter sprachlichen Spitzfindigkeiten ist beschämend.“

Grünen-Chef Cem Özdemir sagte: „Wir sind es den Opfern schuldig, dass niemand ausgelassen wird und alles beim Namen genannt wird.“ Am Revers trug der türkischstämmige Politiker dazu eine Brosche, die zur Erinnerung an die ermordeten Armenier ein Vergissmeinnicht zeigt. Aber auch in der Koalition hoffen einige darauf, dass die Erklärung in den Ausschüssen verschärft wird, bevor sie verabschiedet wird. So viel Einigkeit wie nun zum Beispiel zwischen Özdemir und der CDU-Abgeordneten und früheren Vertriebenenpräsidentin Erika Steinbach war nur selten im Parlament.

Von Merkel oder Steinmeier hört man das V-Wort allerdings immer noch nicht. Die Bundesregierung verweist jetzt stets auf die Formulierung, die mit den Koalitionsparteien gefunden wurde. Offiziell begründet wird dies damit, dass die Aussöhnung zwischen Türkei und Armenien durch den Streit ums Vokabular nicht noch erschwert werden solle.

Aus der Türkei blieb eine Reaktion zunächst aus. Doch die Ruhe dürfte trügerisch sein: Im Juni wird ein neues Parlament gewählt, und die islamisch-konservative Regierungspartei AKP buhlt besonders um Wähler der nationalistischen MHP. Deren Chef Devlet Bahceli hatte am Donnerstag zu den Gräueltaten an den Armeniern gesagt, das türkische Volk habe nur getan, „was nötig war“, um die Heimat zu schützen.

Türkische Medien kritisierten am Freitag die Rede Gauck. Sie sei ein „Skandal“ gewesen, kommentierte die Online-Ausgabe der bürgerlichen Zeitung „Milliyet“. Bei der „Hürriyet“ war von „schockierenden“ Äußerungen des Bundespräsidenten die Rede. Regierungsnahe Medien wie die Zeitung „Yeni Safak“ warfen Gauck vor, sich mit „hässlichen Worten“ über das Osmanische Reich geäußert und seine Kompetenzen überschritten zu haben.

Die Reaktion des türkischen Außenministeriums auf die Völkermord-Erklärung des österreichischen Parlaments in dieser Woche mag darauf hindeuten, was auf Deutschland noch zukommen könnte. Das Ministerium in Ankara warf den Abgeordneten in Wien „Diskriminierung“ vor und drohte, die Türkei werde „diese Verleumdung ihrer Geschichte nicht vergessen“. Der österreichische Botschafter wurde zum Gespräch gebeten, der türkische Botschafter aus Wien für Konsultationen zurück nach Ankara gerufen. Besonders Erdogan hatte in den vergangenen Tagen dünnhäutig reagiert, wenn von Völkermord die Rede war. Papst Franziskus warf er vor, „Unsinn“ zu reden. Dem EU-Parlament bescheinigte er, dessen Beschlüsse würden „zum einen Ohr rein- und zum anderen rausgehen“.