Luxemburg. Minister beschließen Zehn-Punkte-Plan nach Flüchtlingsdramen im Mittelmeer. Bis zu eine Million Menschen warten in Libyen auf Überfahrt nach Europa

Andre Tauber

Die Europäische Union will mit einer massiven Ausweitung der Seenotrettung auf die jüngsten Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer reagieren. Bei einem Sondertreffen der Außen- und Innenminister am Montag in Luxemburg wurden Pläne für die Verdoppelung der Finanzmittel für die Programme Triton und Poseidon auf den Weg gebracht. Diese sollen den Einsatz von deutlich mehr Schiffen ermöglichen.

Zudem könnten künftig gezielt von Schleppern genutzte Schiffe beschlagnahmt und zerstört werden. Vorbild sei die militärische Anti-Piraterie-Mission „Atalanta“ am Horn von Afrika, sagte EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos in Luxemburg bei der Vorstellung eines Zehn-Punkte-Plans zur Flüchtlingsproblematik. Die Militärmission „Atalanta“ begleitet nicht nur zivile Schiffe am Horn von Afrika, sondern zerstörte mehrfach auch Piratenlager.

„Natürlich ist richtig: Je mehr Boote man für die Seenotrettung zur Verfügung stellt – ohne ergänzende Maßnahmen –, desto mehr werden Schlepper angeregt, dann ihr Geschäft fortzusetzen“, sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU). Dennoch unterstütze Deutschland die Verstärkung der Seenotrettung. Gleichzeitig müsse aber entschlossen gegen den Menschenhandel vorgegangen werden. „Das gehört zu den widerlichsten Verbrechen, die man sich vorstellen kann“, sagte de Maizière. „Die EU trägt daran keine Schuld, aber wir tragen Verantwortung für die Lösung dieser Themen.“

Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini sagte, das Ansehen Europas stehe auf dem Spiel. Viel zu oft sei gesagt worden: „Nie wieder.“ Jetzt müsse endlich gehandelt werden. Der Uno-Hochkommissar für Menschenrechte hatte zuvor die EU wegen der Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer ungewöhnlich scharf kritisiert. Die Hunderten von Toten seien das Ergebnis eines anhaltenden Politikversagens und eines „monumentalen Mangels an Mitgefühl“, sagte Said Raad al-Hussein am Montag in Genf. „Ich bin entsetzt, aber nicht überrascht über die jüngste Tragödie.“

Bereits am Donnerstag wollen sich nun auch die Staats- und Regierungschefs der 28 EU-Staaten bei einem Sondergipfeltreffen in Brüssel mit der Flüchtlingsproblematik beschäftigen. Grundlage der Diskussion soll der in Luxemburg vorgestellte Zehn-Punkte-Plan sein.

Neben der Ausweitung der Mittel für Seenotrettung und den Plänen zur Zerstörung von Schlepperschiffen gehören dazu unter anderem ein Mechanismus zur besseren Verteilung in Europa ankommender Flüchtlinge auf die Mitgliedstaaten. „Wenn die Erstaufnahmeländer, also namentlich Italien und Griechenland, dazu Hilfe brauchen, so habe ich sie heute für die Bundesrepublik Deutschland angeboten“, sagte de Maizière. Zudem soll mehr dafür getan werden, dass Menschen gar nicht erst in Boote steigen und sich auf den Weg nach Europa machen.

„Wir können dem Problem auf lange Sicht nur Herr werden, wenn wir die Fluchtgründe an der Wurzel bekämpfen“, sagte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier. Deshalb müsse sich der Blick auf die Krisenherde in der Region richten, insbesondere auf Libyen.

Das Bürgerkriegsland ist derzeit ein Haupttransitland für Flüchtlinge. Seit Machthaber Muammar al-Gaddafi 2011 mit Unterstützung des Westens gestürzt wurde, rivalisieren in Libyen islamistische Milizen und nationalistische Kräfte um Macht und Einfluss. Es gibt keine funktionierenden Grenzkontrollen. „Deswegen kommt es darauf an, dass wir helfen, Libyen zu stabilisieren“, sagte Steinmeier.

Zuvor hatten Matteo Renzi und Joseph Muscat, die Ministerpräsidenten Italiens und Maltas, gemeinsam deutlich gemacht, dass sie sich in der Flüchtlingsproblematik von Europa im Stich gelassen fühlen. Renzi und Muscat richteten am Montag einen Appell an die EU. „Vor 20 Jahren schlossen wir die Augen vor Srebrenica. Das können wir uns dieses Mal nicht mehr erlauben“, sagte Renzi und zog damit einen Vergleich mit dem Massaker serbischer Milizen an Tausenden muslimischer Bosnier. Sein Amtskollege Muscat wählte ähnlich deutliche Worte: „Wenn Europa nicht zusammenhält, dann wird die Geschichte sehr negativ urteilen. Wie damals, als Europa bei den Völkermorden wegsah.“

Der Forderungskatalog von Italien und Malta ist lang. Beide Länder machen sich seit Monaten für mehr Mittel für Seenotrettungen stark. Zudem sprechen sie sich für eine Quotenregelung aus, mit der die Bootsflüchtlinge in der EU verteilt werden. Bislang schreibt die Dublin-Verordnung vor, dass die Migranten im Ankunftsland Asyl beantragen und dort bleiben. Kurzfristig wünschen sich Italien und Malta ein entschlossenes Vorgehen gegen Schleuser: „Wir verlangen von der internationalen Gemeinschaft, dass die Jagd auf diese Kriminellen Priorität hat.“

Eine neue Flüchtlingswelle übers Mittelmeer schwappt nach Europa. Menschen aus Syrien, Libyen und Subsahara-Afrika entfliehen Krieg, Hunger und Vertreibung. Europa ist für sie das Tor zu einem besseren Leben. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) geht davon aus, dass seit Jahresbeginn rund 31.500 Personen nach Italien und Griechenland übersetzten. Vincent Cochetel, bei UNHCR zuständig für Europa, geht davon aus, dass die Flüchtlingswelle anhält: „Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass dieses Jahr in Italien und Griechenland weniger Menschen anstranden als 2014.“ Maurizio Scalia, Staatsanwalt in Palermo, befürchtet eine Eskalation: „Die Daten deuten daraufhin, dass eine Million Menschen darauf warten, von der libyschen Küsten nach Europa überzusetzen.“

Auch am Montag starben wieder Flüchtlinge: Beim Untergang eines Bootes vor der griechischen Insel Rhodos ertranken mindestens drei Menschen, darunter ein Kind. 93 Flüchtlinge wurden gerettet.