Rom . Hunderte Flüchtlinge ertrinken vor libyscher Küste. Der Papst betet für sie auf dem Petersplatz. EU beruft Dringlichkeitssitzung ein

Wieder Hunderte Opfer. Und wieder wurde die Flucht vor Elend, Hunger, politischer oder religiöser Verfolgung Menschen zum Schicksal. In der Nacht zum Sonntag starben die meisten Passagiere eines Fischkutters auf dem Weg von Libyen zum europäischen Festland. Die Besatzungsmitglieder des portugiesischen Containerschiffs „King Jacob“ waren Augenzeugen der Katastrophe. Sie hatten im Auftrag der italienischen Küstenwache Kurs auf den Kutter genommen. Der hatte zuvor ein SOS gesendet, das Boot sei nicht mehr manövrierbar. Ein nur 30 Meter langes Schiff – nicht vorstellbar, wie 700 Menschen dort hineingepfercht werden konnten.

„Sie suchten das Glück“, rief Papst Franziskus auf dem Petersplatz der Menge zu und monierte, die internationale Gemeinschaft müsse nun „mit Entschlossenheit und Eile reagieren, um weitere Tragödien dieser Art zu verhindern“. Am Ende wurden die Passagiere sich noch selbst zum Verhängnis: Als sie das rettende Containerschiff sahen, liefen alle – so berichtete ein Überlebender – auf die eine Seite des Schiffs. Es kenterte und versank im Meer. Nur knapp 30 Überlebende konnten geborgen werden. 17 Boote der italienischen Marine, der Küstenwache und der Finanzpolizei, die im Auftrag für das europäische Programm „Triton“ in der Gegend stationiert sind sowie mehrere Helikopter waren seit der Nacht am Unglücksort, um die Toten zu bergen und zu versuchen, überlebende Schiffbrüchige zu finden. Der Offizier der Finanzpolizei, Gianfranco Carrozza, erklärte in einer Liveschaltung mit dem Sender La7: „Natürlich suchen wir nach den Opfern. Aber vor allem wollen wir jedes Menschenleben retten, solange es möglich ist.“ Die Bedingungen gäben ein wenig Hoffnung, das Meerwasser sei warm und ruhig.

Auch aus dem südsizilianischen Hafen Mazzara del Vallo sind fünf Fischkutter spontan an den Unglücksort gefahren. Viele Menschen hier sprechen arabisch, in dem Städtchen lebt die größte Gemeinde von Tunesiern in Italien. Die sizilianischen Fischer retten täglich Schiffbrüchige aus der Seenot. Sie leisten freiwillige Arbeit, auch bei der Versorgung der Flüchtlinge und Überlebenden, wie in vielen Orten auf der Insel und in ganz Süditalien. Sie bringen die Menschen in Wohnungen unter, wo der Staat keinen Platz mehr in den Aufnahmelagern findet, versorgen sie mit Kleidung, Nahrung und auch mit Arbeitsplätzen. In den beiden großen Häfen Siziliens, in Palermo und Catania, liefen am Sonntagvormittag die Vorbereitungen für die Aufnahme der Überlebenden – und der Toten – auf Hochtouren. Die Frage nach neuen Maßnahmen reißt den Bürgermeister der sizilianischen Hauptstadt Palermo, Leoluca Orlando, gleich nach Erscheinen der Nachricht im Online-Portal der „Times of Malta“, aus dem Schlaf: „Herr Orlando, was werden Sie nun tun?“

Er ist entsetzt, erfährt das Geschehene mit dem Anruf. Die ganze Woche hat er nicht geschlafen, die Nächte in Notstands-Sitzungen und an der Mole im Hafen verbracht. Allein in der Nacht zum Montag waren in Palermo rund 2000 Flüchtlinge an Land gegangen. Da war Orlando bis sechs Uhr morgens an der Kaimauer.

Die Schlepper setzen kleine morsche Kähne als Flüchtlingsboote ein

Es sind nicht die ersten Toten, die die illegale Verschiffung von Menschen aus Afrika in diesem Jahr gefordert hat. Bereits 900 Menschen ertranken vermutlich seit Anfang 2015 im Mittelmeer bei dem Versuch Europa zu erreichen, so schätzt es die Uno-Flüchtlingsorganisation UNHCR. Erst in der vergangenen Woche berichteten Schiffbrüchige von 400 Mitreisenden, die beim Kentern ihres Bootes ertrunken sein sollen. Die Flüchtlingswelle ist in diesem Jahr schon im April deutliche angeschwollen, weil das Klima milde und das Meer relativ ruhig ist. Allein 11.000 Menschen sollen in der vergangenen Woche an italienischen Küsten angekommen sein. Die Reisen sind gefährlich, weil die Schlepper morsche Kähne als Flüchtlingsboote einsetzen oder die Insassen auf hoher See aus größeren Booten in Schaluppen oder Schlauchboote verfrachten, die nicht seetüchtig sind und oft einfach auseinanderbrechen. Die Versorgung der Ankommenden ist heikel: Es gibt oft Kranke auf den Booten. Die eindeutige Identifizierung ist kompliziert, weil viele ihre Dokumente zuvor vernichten. „Die Überlebenden müssen ärztlich versorgt werden, aufgenommen, weitergeschickt werden in Aufnahme-Zentren in anderen italienischen Regionen,” sagte Orlando. Das belaste die Städte im Süden erheblich. Jeder müssen da helfen, nicht nur die staatlichen Institutionen. Es erreicht ihn ein Anruf des Innenministeriums: Die Rettungsarbeiten liefen noch weiter, erst später werde man die Toten in die sizilianischen Häfen bringen, sagt man ihm. Man wolle warten, „bis mehr Opfer an die Wasseroberfläche kommen, denn das Schiff ist gesunken und hat die Menschen mit in die Tiefe gerissen.”

Man hört die Betroffenheit in der Stimme. „Europa hat die Rolle und das Verhalten eines Pontius Pilatus angenommen, verbarrikadiert sich hinter wirtschaftlichen Ausreden oder Sicherheitsproblemen.” Orlando fordert einen „humanitären Korridor” und zwar „sofort, um Tausende Menschen vor dem Zugriff krimineller Schleuser und dem sicheren Tod zu retten”. Aber er will mehr. Europa müsse endlich die Einreise legalisieren, sonst hätte es die Toten auf dem Gewissen. „Jeder hat ein Recht darauf, zu entscheiden wo er leben will.”

Turiner Bürgermeister bezeichnet Italien als „Eingangspforte nach Europa“

Er liegt damit auf der Linie von Papst Franziskus, der das wenig später ähnlich auf dem Petersplatz beim sonntäglichen Gebet in die Menge ruft, selbst den Tränen nahe: „Sie sind Frauen und Männer wie wir, die auf der Suche waren nach einem besseren Leben. Beten wir in Stille für diese Brüder und Schwestern.” Franziskus selbst hatte seine erste Reise als gerade gewählter Pontifex im Juli 2013 nach Lampedusa unternommen und dort einen Blumenkranz ins Meer geworfen, wo sich in den Jahren zuvor immer wieder tödliche Tragödien abgespielt hatten.

Aber schon wenig später im Oktober 2013 sank vor der Küste erneut ein Boot: 366 Menschen starben, mehr als 20 blieben vermisst. Die Bilder des Grauens – die aufgereihten Leichname auf der Kaimauer und die Trauerfeier – lösten in ganz Europa schweres Entsetzen aus. Die Bürgermeisterin der Insel, Giusi Nicolini, sagte am Sonntag zu dem neuerlichen Unglück: „Das Mittelmeer ist ein Massengrab.”

Der Turiner Bürgermeister bezeichnete Italien als „Eingangspforte nach Europa” und forderte, das Land „nicht länger allein zu lassen”. Allgemein fordern Italiens Politiker ein stärkeres Engagement bei einer Lösung zum Flüchtlingsdrama im Mittelmeer. Premier Matteo Renzi brach umgehend eine Wahlkampfreise durch Norditalien ab und kehrte zur Koordination der Hilfsmaßnahmen nach Rom zurück. Er sagte: „Wir sind Zeugen eines Unglücks, das täglich Tote fordert. Dem können wir nicht tatenlos zusehen!“