Berlin. Merkel und Gabriel eröffnen Diskussionsreihe unter dem Motto „Gut leben in Deutschland – was uns wichtig ist“

Was fällt dem Bürger wohl zum Wort „Bürger“ ein? Der eine setzt davor wahrscheinlich instinktiv das Wörtchen „Wut-“, der andere dahinter vielleicht „-dialog“. Was jeweils dabei herauskommt, bedeutet mittlerweile allerdings sowieso mehr oder minder das Gleiche. Das weiß auch die Bundesregierung und lädt an dem Tag, da in Dresden wieder mal die Wutbürger in Gestalt der Pegida gegen sie demonstrieren, in Berlin zum Bürgerdialog. Der Ort ist schlau gewählt, der Gasometer in Schöneberg ist jeden Sonntag Protagonist in Günther Jauchs Talkshow – in guten Momenten manchmal eine Art Bürgerdialog. Bis Oktober gibt es nun deutschlandweit 150 Veranstaltungen von mehr als 70 verschiedenen Organisationen, bei denen die Bürger sagen sollen, wie sie sich „gut leben in Deutschland“ vorstellen. Das ist das Motto, unter das die Bundesregierung die ganze Reihe gestellt hat.

Merkel und ihre Minister werden in der Regel nicht dabei sein. Dafür ihre Abgesandten. Danach werden sich Wissenschaftler über die Protokolle hermachen und sie auswerten. „Wir nehmen nicht nur das auf, was wir hören, sondern wir haben uns für eine wissenschaftliche Aufarbeitung entschieden“, sagte Angela Merkel bei der Eröffnung der Reihe im Gasometer.

Hier scheint Merkel wieder ganz in ihrem alten Metier: der Naturwissenschaft. Idee, Versuchsanordnung, Experiment, Ergebnis, Auswertung und Schlussfolgerung – das erinnert doch schwer an die Physik. Und das Ganze wird am besten noch zigfach wiederholt, also eben 150 Mal, um dem Zufall ein Schnippchen zu schlagen. Heraus kommt dann im Idealfall ein richtiger Befund. Der soll schließlich zu einem Aktionsplan werden, der vielleicht noch in dieser Legislaturperiode zu der ein oder anderen politischen Entscheidung führen soll.

Es scheint jedoch, als treibe die Kanzlerin mittlerweile das Gefühl um, schlecht beraten zu sein, einfach nicht mehr zu wissen, was die Bürger bewegt. Auf ihr Verhältnis zu den Bürgern angesprochen, äußert sie jedenfalls starke Unsicherheit: „Ich hoffe, dass ich immer noch das wirkliche Leben sehe. Wenn ich einen Besuch mache, dann ist das angekündigt. Dann frage ich oft, wie war es denn vorher. Es soll sich nicht alles immer nur von der besten Seite zeigen.“ Es bedrücke sie, sagt sie, dass die Leute in ihrer Gegenwart sehr aufgeregt seien, dann in den Diskussionen erst lange niemand etwas sage. Immer dann, wenn sich die Menschen trauten, sei sie schon kurz davor, wieder „abzurauschen“. So soll ihr also die vertraute empirische Wissenschaft nun liefern, was ihre eigene Funktion ihr offenbar versagt, noch zu erleben. Was dabei herauskommt, hängt von den Leuten ab, die zu den Veranstaltungen kommen. Läuft es so wie in den virtuellen Dialog-Versuchen der Bundesregierung, dann ist das Ergebnis ein Sammelsurium von Politikverdruss. Das kann man am etwa sechs Wochen alten Facebook-Auftritt der Regierung und der Internetseite des Bürgerdialogs studieren.

„Distanz führt zu Verachtung für die demokratischen Institutionen“, sagte Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel bei der Veranstaltung in Berlin. Und diese Distanz sei heute viel größer als früher. Gabriel wagt dabei sogar auf eine Idee zurückzugreifen, die schon in den Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und Union begraben wurde, weil sie Angela Merkel gar nicht gefällt. Im Grunde war er damit der erste Bürger des Bürgerdialogs: „Ich würde auch Volksabstimmungen für sinnvoll halten. Wir brauchen mehr Engagement und Beteiligung. Demokratie ist kein Schaukelstuhl.“ Man weiß, dass Merkel Volksabstimmungen ablehnt. So weit geht ihr Zutrauen in den Bürgerwillen dann doch nicht. Zuhören und reden müssen fürs Erste reichen.

Mit dem Bürgerdialog knüpft die Regierung an den Zukunftsdialog an, den es unter Schwarz-Gelb in der vergangenen Legislaturperiode gegeben hatte. Dabei hatte Merkel mit Experten und Bürgern einen Dialog zu Grundsatzfragen der kommenden Jahre geführt. Eine zentrale Rolle bei dem nun gestarteten Bürgerdialog bilden die Volkshochschulen. Bundesweit 28 dieser Einrichtungen organisieren 100 Veranstaltungen und sind damit der größte Gastgeber. „Wenn sich die Politik für die Meinung des Bürgers interessiert, dann interessiert sich der Bürger auch wieder für Politik“, erklärte die Präsidentin des Deutschen Volkshochschul-Verbandes, Rita Süssmuth. Dafür würden neue Formate und Orte gebraucht, fügte die frühere Bundestagspräsidentin hinzu.

Die Opposition reagierte mit Skepsis auf den Bürgerdialog. Aus ihren Gesprächen mit Bürgern wisse sie „auch ohne Kampagne, wo vielen der Schuh drückt“, erklärte Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke). „Die Armut nimmt zu, die Mieten explodieren, der Osten bleibt benachteiligt.“ Immer mehr „Bürger wähnen sich ohnmächtig, von der Politik übergangen“. Es sei zwar löblich, „wenn Angela Merkel und Sigmar Gabriel beweisen wollen, dass sie auch zuhören können“, erklärte Grünen-Parlamentsgeschäftsführerin Britta Haßelmann. Doch sie müssten sich an ihren Taten messen lassen. „Wir werden es ihnen nicht durchgehen lassen, wenn der Bürgerdialog nichts weiter ist als die Fortsetzung der Merkelschen Politik des Einlullens.“