Hamburg . Übermüdete Kapitäne im Cockpit, Flugzeugführer, die zu Dumpinglöhnen arbeiten oder für den Berufseinstieg sogar bezahlen – der Mythos Pilot wankt

Beim Kaffee redet der Flugkapitän Klartext. „Meine Fluggesellschaft hat nicht annähernd so harte Auswahlkriterien wie Lufthansa. Viele Co-Piloten muss ich bei der Landung heruntersprechen, sonst würden sie es nicht schaffen, selbst bei gutem Wetter. Manche von ihnen bekommen so wenig Geld, dass sie auf dem Land wohnen und stundenlange Anfahrtswege in Kauf nehmen, um morgens im Cockpit zu sitzen. Ich selbst bin Dutzende Male unabsichtlich eingeschlafen, und ich kenne keinen Kollegen, dem das nicht auch passiert ist.“ Dies sei Alltag bei der Charterfluggesellschaft, für die er tätig sei.

Übertreibt der Airbus-Pilot, dessen Name der Redaktion bekannt ist? Oder muss das Bild des glanzvollen Flugzeugführers mit den goldenen Streifen an den Ärmeln seiner dunkelblauen Uniform gründlich revidiert werden? Eine Woche nach dem Absturz des Germanwings-Flugs 4U 9525 und dem Verdacht, der Co-Pilot habe aufgrund seiner depressiven Erkrankung den Airbus 320 absichtlich in den Berg geflogen, rücken die Arbeitsbedingungen deutscher Piloten ins öffentliche Interesse.

Andreas L. litt an Überlastung und einer Depression mit suizidalen Tendenzen, gab die Staatsanwaltschaft Düsseldorf bekannt. Und offenbar ist er nicht der Einzige, der für den anspruchsvollen Job im Cockpit nicht geeignet ist. Auch der Flugkapitän der Charterlinie sieht seine Airline in Gefahr: „Wir haben ein eklatantes Sicherheitsproblem mit unseren Co-Piloten und dem eisernen Sparzwang, der uns abverlangt wird. Und wir sprechen nicht darüber.“

Die Linien-Piloten teilen sich in Deutschland, etwas vereinfacht dargestellt, in zwei Lager auf: Die einen gehören zur Lufthansa und deren Töchtern, wie etwa Germanwings, Eurowings oder Lufthansa Cargo und Cityline. Sie arbeiten nach wie vor unter verhältnismäßig guten Bedingungen und mussten bei der Bewerbung mehrere Einstellungstests überstehen. Wie zuverlässig der sogenannte DLR-Test ist, den die Lufthansa ihren Neulingen abverlangt, dürfte angesichts des Falles Andreas L., der durch alle Raster fiel, aber diskutiert werden.

Wer beim „Kranich“, wie die Mitarbeiter ihre Gesellschaft nennen, gelandet ist, hat in der Regel ausgesorgt. Ein junger Langstreckenpilot des Konzerns berichtet dem Abendblatt zwar von langen Touren und Stress durch die häufige Zeitumstellung. Auch bleibe die Crew häufig nur 24 Stunden am Zielort und fliege gleich wieder zurück – im Pilotenjargon eine ungeliebte „Abholer“-Tour. „Aber uns geht es natürlich noch ganz gut im Vergleich zu anderen Airlines“, sagt der Erste Offizier.

Es sei weniger die Fliegerei, die für Stress sorge, als ständige Untersuchungen und Simulator-Checks. Wer seine medizinische Zulassung verliert – und das kann wegen einer plötzlich auftretenden Sehverschlechterung oder einer Diabeteserkrankung sehr schnell gehen –, ist seine Lizenz und damit seinen Arbeitsplatz los.

„Ich kenne Piloten, die bewusst nicht zum Medizinischen Dienst der Lufthansa gehen, sondern lieber einen externen Arzt aufsuchen“, sagt der Mann. Der Grund: Die Angestellten wollen verhindern, dass die Firma zu viel über sie weiß.

Viermal im Jahr steht ein Simulator-Check an, den die Piloten bestehen müssen, zwei Tests und zwei „Refresher“, also Auffrischungsübungen. Dabei werden zumeist Notverfahren und die Kommunikation der Piloten untereinander im Cockpit abgeprüft. Wer durchfällt, darf den Check zwar wiederholen. „Aber wenn man das zweite Mal durchfällt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man das Unternehmen verlassen muss“, sagt der Pilot. Die harte Regel soll verhindern, dass Passagiere Piloten anvertraut werden, die im Leistungsloch stecken.

Über die „Checker“, die die Prüfungen abnehmen, tauschen sich die Kandidaten aus. In Lufthansa-Pilotenkreisen kursieren zu jedem Flugzeugtyp auch Namen, bei denen man sich besser nicht in den Simulator setzen sollte. „Jeder Pilot, sei er noch so gut, kann im Simulator rausgecheckt werden“, sagt der Flugzeugführer. Dies komme aber „extrem selten“ vor, so sein Eindruck.

Die anderen, die nicht das Glück haben, für Deutschlands Premium-Airline und ihre Ableger fliegen zu dürfen, müssen tiefer einsteigen. Der Kapitän der Charterlinie etwa hat neben sich Co-Piloten, die sogar Geld dafür bezahlen, dass sie fliegen dürfen: Pay-to-fly heißt das Konzept, mit dem sich junge Männer und Frauen ihren Arbeitsplatz erkaufen. Dabei bieten Agenturen Bewerbern an, 300 bis 400 Flugstunden als Erster Offizier im Cockpit eines Verkehrsflugzeugs zu verbringen. Dafür werden bis zu 60.000 Euro fällig.

Dadurch erfliegen die Piloten sich wichtige Erfahrung, mit der sie sich dann im selben Unternehmen oder bei anderen Airlines bewerben können – das Kapital jedes Flugzeugführers sind seine Stunden im Logbuch. „Neulich hatte ich jemanden neben mir im Cockpit, der mir klipp und klar sagte, er sei hier ja Kunde“, so der Pilot. „Die besten landen auf diese Weise nicht zwingend im Cockpit.“

Und: Piloten-Jobs sind rar gesät, daher nehmen viele luftfahrtbegeisterte junge Männer und Frauen auch finanzielle Risiken in Kauf, um die begehrte Uniform tragen zu können. Roland Weinrich arbeitet seit Jahrzehnten als freiberuflicher Linienpilot, Fluglehrer und Prüfer. „Der Pilotenmarkt in Europa ist bis auf Weiteres tot“, sagt er.

Die großen Billigfluggesellschaften wie Ryanair und Easyjet hätten ihre Expansion beendet und benötigten kaum neue Piloten. Allenfalls in den Golfstaaten und in Asien würden neue Leute gebraucht, doch seien die Bezahlung und das berufliche und private Umfeld nicht mit europäischen Verhältnissen vergleichbar. „Der Job ist härter geworden, den Leuten wird immer mehr abverlangt“, beobachtet Weinrich.

Wie sehr Faktoren wie schlechte Bezahlung, Stress und Müdigkeit inein­andergreifen können, zeigt der Absturz von Flug 3407 der US-Airline Continental 2009 in Buffalo, New York. Die 24 Jahre alte Co-Pilotin verdiente 16.000 Dollar im Jahr und musste noch bei ihren Eltern in Seattle wohnen, 5000 Kilometer von ihrem Einsatzort entfernt. Am Tag des Unglücks war sie schwer erkältet zu ihrem Standort geflogen, um ihren Dienst anzutreten. „Übermüdung durch Überarbeitung“ machte die Untersuchungsbehörde als einen Faktor für den Absturz aus. Die Piloten brachten ihre Maschine bei der Landung in einen überzogenen Flugzustand, ohne zu verstehen, was geschah.

Wohl kein Einzelfall: In einer Umfrage der deutschen Pilotenvereinigung Cockpit (VC) im Jahr 2011 gaben 93 Prozent der Piloten an, dass ihnen wegen Übermüdung schon einmal Fehler unterlaufen seien. Die Anforderungen sollen noch steigen: Wenn es nach der Flugsicherheitsbehörde EASA geht, sollen Piloten bis zu elf Stunden am Stück fliegen dürfen, bislang ist die Höchstgrenze zehn Stunden. VC-Präsident Ilja Schulz sagte 2013, es sei keine „Frage, ob der nächste Unfall wegen Übermüdung passiert, sondern nur wann“.

Der frustrierte Pilot, mit dem das Abendblatt sprach, sieht seine Branche am Rand des Abgrunds. „Eigentlich dürfte man mit uns nicht mehr fliegen. Aber weil niemand etwas sagt, geht der Wahnsinn einfach weiter.“