Berlin. Joachim Gauck fordert Politik und Wirtschaft auf, sich stärker als bisher auf die alternde Gesellschaft einzustellen

Bundespräsident Joachim Gauck verlangt von der schwarz-roten Koalition und von der Wirtschaft einen Umbau der Arbeitswelt, damit ältere Menschen länger im Berufsleben bleiben können. Die steigende Lebenserwartung müsse nicht zwangsläufig nur zu einer alternden Gesellschaft führen, sondern könne eine „starke Gesellschaft des längeren Lebens“ hervorbringen. „Was wir brauchen, ist eine neue Lebenslaufpolitik“, forderte Gauck am Dienstag in Berlin. „Wir müssen die Lebenszeit neu strukturieren.“ Notwendig seien Muster für lange Lebensläufe sowie neue Verflechtungen von Lernen, Arbeit und Privatem.

In ungewöhnlich deutlichen Worten drängte Gauck die Koalition zum Handeln. Im Koalitionsvertrag heiße es zwar, dass ältere Beschäftigte im Arbeitsleben unverzichtbar seien und dass flexiblere Übergänge in den Ruhestand erleichtert würden. „Ich fürchte allerdings, dass die Diskussion über dieses Thema allzu schleppend verläuft und der nötige Wandel der Arbeitswelt noch nicht entschlossen genug vorangetrieben wird.“

An die Unternehmen richtete Gauck den Appell, die Verteilung von Arbeitszeit und Beförderungsmuster grundsätzlich zu überdenken. „Es muss nicht dabei bleiben, dass 40 als magisches Alter für den Aufstieg gilt.“ Auch mit 50 oder 60 Jahren könne man aufsteigen und Führungspositionen erreichen. „Die lange lebende muss zur lange lernenden Gesellschaft werden.“

Mit seiner Grundsatzrede zur Eröffnung der Ausstellung „Dialog mit der Zeit“ über die Kunst des Alterns im Berliner Museum für Kommunikation setzt Gauck zu Beginn seines vierten Amtsjahres einen neuen Schwerpunkt. Die Chancen des Älterwerdens gehören für ihn zu den großen Zukunftsthemen, die er bereits in den Mittelpunkt der ersten Hälfte seiner Präsidentschaft gestellt hat: eine größere Verantwortung Deutschlands bei der Lösung internationaler Konflikte und ein stärkeres Bemühen um das Zusammenleben mit Flüchtlingen und Einwanderern.

Jetzt geht es ihm darum, Wege aufzuzeigen, wie durch gezielte Bildung, eine Entzerrung der Stressphasen für Jüngere mit Mehrfachbelastungen und durch größere Flexibilität im Umgang mit Älteren die Entwicklungsmöglichkeiten Deutschlands verbessert werden können.

FDP-Chef Christian Lindner sagte der „Welt“, Gauck beweise mit seiner Rede mehr Weitsicht als Union und SPD zusammen. „Die Große Koalition täte gut daran, seinem Appell für einen flexiblen Renteneintritt und lebenslanges Lernen zu folgen. Die individuellen Bedürfnisse und Chancen jedes Einzelnen müssen wieder in den Fokus der Politik rücken.“

In seiner Rede nahm der Bundespräsident auch deutlich Bezug auf seine eigene Lebenssituation: Eigentlich, sagte Gauck, habe er sich seinen Ruhestand vor langer Zeit noch irgendwie anders vorgestellt. Eher klassisch, mit Pantoffeln und verdienter Gemütlichkeit. „Dann ist es doch anders gekommen“, sagte der Bundespräsident. Der Applaus im Berliner Museum für Kommunikation war lang. Dass der umtriebige Gauck tatsächlich jemals vorhatte, mit 65 Jahren regulär in Rente zu gehen, kann sich zwar kaum jemand im Saal vorstellen. Aber als Beispiel dafür, wie viel Kraft und Gestaltungswille in einem 75-Jährigen stecken kann, taugt das Staatsoberhaupt trotzdem.

Und genau darum ging es ihm in seiner Grundsatzrede. Gauck warnte davor, Älterwerden nur mit Verfall und Verlust gleichzusetzen und eine Gesellschaft mit steigendem Durchschnittsalter dann automatisch als schwach zu betrachten. Zwar seien der Ärztemangel auf dem Land, der drohende Pflegenotstand und Engpässe in den Sozialkassen Probleme, die entstehen könnten, wenn nur noch wenige junge Menschen nachwachsen. Der Staat stehe aber in der Pflicht, die ganze Bandbreite von denkbaren Szenarien im Alter zu berücksichtigen. Es gehe einerseits darum, Menschen vor Überforderung zu schützen, andererseits Möglichkeiten zu eröffnen, sich weiterhin einzubringen. „Wenn wir rechtzeitig handeln, muss eine Gesellschaft des längeren Lebens eingeschränkte Potenzen nicht deuten als eine Gesellschaft ohne Potenziale.“

Zwar übte Gauck nicht direkt Kritik an der von der Koalition beschlossenen Rente mit 63. Er griff aber das viel zitierte Beispiel eines Dachdeckers auf, der aus gesundheitlichen Gründen schon weit vor dem gesetzlichen Rentenbeginn gezwungen sei, seinen erlernten Beruf aufzugeben. Für diesen Mann müssten Wege gefunden werden, wie er sein Wissen an anderer Stelle im Unternehmen oder in der Ausbildung der Jugend einsetzen könne. Seine Kritik formulierte Gauck als Frage: „Sind wir als Gesellschaft bereit, für die große Bandbreite an Möglichkeiten im Alter eine entsprechend große Bandbreite an Gestaltungsoptionen vorzuhalten?“ Flexible Renteneintrittsgrenzen und das Sozialstaatsprinzip dürften kein Widerspruch sein.

Der Bundespräsident schaltete sich damit auch in die Debatte über eine neue Zeitpolitik für die sogenannte gehetzte Generation zwischen 30 und 50 Jahren ein, die gleichzeitig mit Familiengründung, beruflichem Aufstieg und womöglich pflegebedürftigen Eltern stark gefordert ist. SPD und Grüne arbeiten derzeit an Konzepten zur Entlastung dieser Altersgruppe. Es gehe darum, die steigende Lebenserwartung und die dadurch gewonnene Zeit sinnvoll zu nutzen und zu verteilen, betonte Gauck. Dazu müsse die Politik lernen, über die Legislaturperiode hinauszudenken. „Eine Gesellschaft des längeren Lebens braucht eine Politik des längeren Atems.“ Als Schlüsselfrage sieht Gauck dabei die Bildung. „Wir müssen das verlängerte Leben insgesamt in den Blick nehmen“, fordert der 75-Jährige.