„Ich war nie illoyal, aber zu jeder Zeit unabhängig.“ So beschreibt Thilo Sarrazin sein Selbstverständnis. Der 65-jährige ist Bundesbankvorstand und trägt ein SPD-Parteibuch, gleichzeitig stellt er in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ Thesen zum Zusammenleben von Deutschen und Ausländern auf, die für viele die Grenzen der zulässigen Provokation überschreiten. Doch Sarrazin ist sich keiner Schuld bewusst. Er sieht sich als jemand, der „verstehen und gestalten“ will, wie er am Montag bei der Vorstellung des Buches sagte. Dabei sorgte er schon häufiger mit seinen Bemerkungen zu Ausländern oder Hartz-IV-Empfängern für Unmut.

In Gera kurz vor Ende des Kriegs in großbürgerlichem Elternhaus geboren, studierte Sarrazin Volkswirtschaft. Sein „Interesse für Politik und Geschichte“ habe ihn dazu motiviert, sagte er einmal. 1975 trat er ins Bundesfinanzministerium ein, wo er 16 Jahre lang blieb. Zur Wendezeit wurde er unter Bundesfinanzminister Theodor Waigel (CSU) Leiter der Arbeitsgruppe „Innerdeutsche Beziehungen“ und war wesentlich verantwortlich für die Währungsunion. Danach baute er die Rechts- und Fachaufsicht über die Treuhandanstalt auf.

1991 wurde Sarrazin Staatssekretär für Finanzen in Rheinland-Pfalz, dann übernahm er die Geschäftsführung der Treuhandliegenschafts-Gesellschaft in Berlin und wurde später Vorstandsmitglied bei der Deutschen Bahn. 2002 nahm er in der hoch verschuldeten Hauptstadt den Posten des Finanzsenators an und wurde zu einer schillernden Figur im Kabinett des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit (SPD). Dazu trugen nicht nur seine Erfolge im Amt bei. Dank eines eisernen Sparkurses schaffte es Sarrazin, den Landeshaushalt aus der Neuschuldenspirale zu hieven. 2007 und 2008 konnte das Land sogar Überschüsse verzeichnen.

Gleichzeitig machte er mit markigen Sprüchen auf sich aufmerksam. Beliebtestes Ziel seiner Attacken waren Hartz-IV-Empfänger und Arbeitslose. Um zu untermauern, dass der Hartz-IV-Satz ausreiche, ließ Sarrazin einen Speiseplan entwickeln, mit dem er beweisen wollte, dass man auch mit weniger als vier Euro am Tag „ausgewogen, auskömmlich essen“ kann. Als ein Moderator ihm daraufhin vorrechnete, dass seine Speisepläne eher Diätkost entsprächen, sagte der Senator: „Wenn man sich das anschaut, so ist das kleinste Problem von Hartz-IV-Empfängern das Untergewicht.“

Auch nach seinem Wechsel zur Bundesbank im Mai vergangenen Jahres plauderte Sarrazin munter weiter über seine Sicht auf den Zustand der Republik. Im Mauerfall-Jubiläumsheft der Zeitschrift „Lettre International“ äußerte er sich provokanter als zuvor und kritisierte große Teile der arabischen und türkischen Einwanderer als „weder integrationswillig noch integrationsfähig“. Sie hätten für die Gesellschaft „keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel“. Schon damals sorgt er für Wirbel und Proteste.

In seinem nun erschienen Buch geht er Fragen der Integration, aber auch der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung nach. Schon vor Erscheinen des Buches löste er damit eine Kontroverse aus, die sowohl ihn selbst, wie auch seinen Verlag zu überraschen scheint.

Bei der Buchvorstellung am Montag versuchte Sarrazin die Emotionen zu dämpfen. Provozierende Fragen beantwortete er sachlich und empfahl die Lektüre seines Buchs. Mit dem Satz „Wenn ich den Muezzin hören will, fahre ich ins Morgenland“ aus seinem Buch konfrontiert, gab Sarrazin zu, dass es durchaus auch „wertende Zuspitzungen“ enthalte. Ein Buch, das den Menschen erreichen wolle, müsse auch eine Sprache sprechen, die verstanden werde, sagte er.

Doch der SPD-Vorstand vermochte einer solchen Argumentation nicht länger zu folgen. Er beschloss am Montag ein Parteiausschlussverfahren gegen Sarrazin. Auch die Bundesbank distanzierte sich „entschieden von den diskriminierenden Äußerungen“ ihres Vorstandsmitglieds. Zu einen Antrag auf Entlassung Sarrazins konnte sie sich aber noch nicht durchringen.