Im Münchner Mordprozess rückt jetzt das Umfeld der Hauptverdächtigen in den Mittelpunkt. Brigitte Böhnhardt muss in den nächsten Tagen aussagen.

Hamburg/München. Jeden Tag sitzt Professor Henning Saß schräg gegenüber von Beate Zschäpe. Er ist nur drei Meter entfernt, manchmal hebt Saß den Oberkörper nach vorne und tippt ein paar Sätze in seinen Laptop. Saß schreibt für die Richter das psychologische Tagebuch über Zschäpe, angeklagt wegen zehnfachen Mordes und Gründung einer terroristischen Vereinigung. Saß macht in den vielen Stunden der Verhandlung nichts anderes, als Beate Zschäpe anzuschauen, wie sie auf der Anklagebank sitzt, hier im Gerichtssaal A 101 im Münchner Oberlandesgericht. Doch meist sitzt Saß so reglos da wie die Frau, die er beobachtet. Zschäpe sagt kein Wort. Und sie schweigt auch durch ihre Regungslosigkeit. Für Saß gibt es wenig zu notieren.

Seit Mai 2013 läuft dieser umfangreichste Prozess in der Geschichte der Bundesrepublik. Bis Ende 2014 stehen die Verhandlungstermine fest, die Akten allein zum Hamburger Mordfall an Süleyman Tasköprü im Juni 2011 sind mehr als 1400 Seiten lang. In diesen ersten Monaten konnten die Aussagen vieler Polizeibeamter, Forensiker und Tatortzeugen nach Ansicht von dem Kieler Anwalt Alexander Hoffmann bereits Hinweise dafür liefern, dass Zschäpe in die bewaffneten Aktionen des Trios eingebunden gewesen sein musste. Hoffmann ist Nebenklage-Anwalt, seine Mandantin lebt nur 25 Meter Luftlinie von dem Haus in der Kölner Keupstraße entfernt, in dem 2004 die dem NSU-Trio zur Last gelegte Nagelbombe explodierte.

An vielen Verhandlungstagen hat sich das Gericht bisher auch mit der Wohnung des Trios in der Zwickauer Frühlingsstraße befasst. Dort, wo Waffen und Sprengstoff lagerten, dort, wo das Trio Bilder von den Tatorten auf dem Computer gespeichert hatte. Bisher konnte nicht bewiesen werden, dass Zschäpe an einem der Tatorte war und mordete. „Aber es kann nicht sein, dass Zschäpe von all den Morden und Banküberfällen nichts gewusst hat“, sagt Hoffmann dem Abendblatt. Zschäpe gilt der Generalbundesanwaltschaft als diejenige, die dem Trio die bürgerliche Fassade nach außen gab und somit ein Leben im Untergrund möglich machte. Bisher saß Zschäpe auf der Anklagebank und hörte zu. Manchmal tuschelte sie mit ihren drei Anwälten, manchmal schmunzelte sie, an anderen Tagen löste sie Kreuzworträtsel.

Doch in den kommenden Wochen wird es im Gerichtssaal in München spannend. Menschen aus dem Umfeld der Hauptangeklagten sagen als Zeugen aus. Menschen, die Zschäpe kannten – und die wissen könnten, was für ein Mensch sie ist. Nachbarn, Urlaubsbekanntschaften.

Und der Prozess rückt näher an die Personen heran, die mutmaßlich an der Organisation der Terrorgruppe beteiligt waren. So sagt kommende Woche Andre Kapke aus – er war als Neonazi in Thüringen eng mit dem Trio verbandelt, bis es Ende der 90er abtauchte. Bisher sei bei den Morden die Rolle des Umfeldes nicht genügend beachtet worden, sagt die Hamburger Anwältin Gül Pinar. Sie vertritt in München die Familie von Mordopfer Tasköprü. „Es sind Anhaltspunkte, die sich aus der Hauptverhandlung ergeben haben, dass Unterstützer vor Ort gewesen sein müssen, wie beispielsweise zum Ausspähen möglicher Anschlagsziele“, sagt Pinar.

Die Frage nach Helfern vor Ort wirft auch der Mord an Tasköprü auf. Er war bisher an nur wenigen Tagen Thema im Gerichtssaal in München. Denn die Beweislage ist eindeutiger als bei anderen Morden: Im ausgebrannten Haus des Trios in Zwickau entdeckten die Fahnder 2011 die Bekenner-DVD des NSU. Darauf sind auch Fotos des toten Tasköprü in seinem Gemüseladen in der Hamburger Schützenstraße zu sehen, eingezwängt und blutverschmiert hinter dem Tresen. Die Polizei schließt aus, dass das Foto aus den Medien oder von der Spurensicherung stammt. Denn der Vater hatte den Sohn in die Mitte des Ladens gezogen – noch bevor der erste Rettungswagen am Tatort eintraf. Die Fotos auf der DVD des NSU können nur von den Tätern gemacht worden sein.

In den nächsten Tagen soll nun die Mutter von Uwe Böhnhardt als Zeugin aussagen. Die pensionierte Sonderpädagogin hatte noch Jahre nach dem Untertauchen heimlich mit dem Trio Kontakt gehalten. Zuvor hatte sie Zschäpe in der Wohnung der Familie aufgenommen, als diese sich mit ihrer Mutter gestritten hatte. Zschäpe sei nett gewesen. „Ich mochte sie“, hatte Brigitte Böhnhardt im Thüringer Untersuchungsausschuss ausgesagt. Zschäpe war die Ex-Freundin des toten Sohnes.

Doch Auftritte von Eltern vor Gericht sind mit Vorsicht zu genießen. Sie verklären das Bild ihrer Kinder. Und dennoch kann die Mutter von Böhnhardt dazu beitragen, ein Bild von Zschäpe zu zeichnen. Wer war sie? Wie war ihr Verhältnis zu dem Sohn? Das ist vor allem für eines wichtig: War Zschäpe auch von ihrer Person her selbstbewusst und entschieden genug, um in dem Trio mit Uwe Mundlos und Böhnhardt eine wichtige Rolle bei der Planung der Mordserie zu spielen?

Doch schon in dieser Woche wurde klar, dass in den Zeugen aus dem Umfeld Zschäpes viel Potenzial für die Beweisführung stecken könnte und die Vernehmung vor Gericht sehr knifflig wird. So versuchte Richter Manfred Götzl über mehrere Stunden zu erfahren, was eine 33 Jahre alte Friseurin dazu bewogen hat, 2005 ihre Krankenkassenkarte an den heutigen Mitangeklagten Holger G. für 300 Euro zu verkaufen. Jene Karte, mit der Zschäpe zum Frauenarzt oder zum Zahnarzt gehen konnte. Die Karte, die ihr das Leben im Untergrund ermöglichte. Doch die Zeugin will sich an nichts erinnern. „Ich hab in dem Moment auch nur das Geld gesehen. Ich bin eine arme Friseurin und Punkt.“ In der Zeit darauf verstrickt sich die Zeugin in Widersprüche und offensichtliche Falschaussagen.

Am Tag darauf wollten die Münchner Richter im NSU-Prozess der Frage nach der Tatwaffe auf den Grund gehen – und wie sie in die Hände der mutmaßlichen NSU-Terroristen kam. Der erste Zeuge wollte aber nichts sagen. Und der zweite meldete sich krank.

Beide Fälle zeigen ein Dilemma: Die Zeugen aus dem Umfeld gelten eben nur als Zeugen. Wenn aber herauskäme, dass sie von den Plänen wussten und beispielsweise durch Lieferung der Tatwaffe oder Weitergabe der Krankenkassenkarte an der Organisation des NSU beteiligt waren, könnten diese Zeugen schnell als Unterstützer gelten. Doch niemand muss sich selbst belasten.

Je näher die Zeugen jener Welt stehen, aus der sich der „Nationalsozialistische Untergrund“ aufgebaut hat, desto schlechter sind die Erinnerungen. Es könnte wieder viel Schweigen im Gerichtssaal geben. Diesmal nicht nur von Beate Zschäpe.