Im Zug zur Macht: Der Hamburger Spitzenkandidat der Linken protestierte früher gegen Atomkraft und Neonazis. Heute kämpft er im Bundestag gegen Waffenexporte. Jan van Aken über sein politisches Selbstverständnis.

Es ist ruhig auf dem Bahnsteig am Gleis 4, als der ICE 791 in Richtung Berlin an diesem Freitagmorgen im August in den Dammtor-Bahnhof einfährt. Jan van Aken trägt ein hellblaues Hemd, eine Jeans und seine Tasche über die Schulter. Im Abteil findet er schnell einen freien Platz. Er wird am Mittag eine Besuchergruppe aus Altona durch den Bundestag führen. Manchmal sei der Zug am Montagmorgen so voll, dass er sich mit seiner Bahncard 100 in die erste Klasse setzt, dort hat er Ruhe, kann am Laptop die Sitzungen im Bundestag vorbereiten. Als Linker, sagt er, müsste er eigentlich ja 2. Klasse fahren. Dort, wo die Angestellten und Arbeiter sitzen. „Man kann aber nicht immer 100 Prozent politisch korrekt leben.“ Es sind die Momente, in denen der Spitzenkandidat der Linken ziemlich pragmatisch klingt.

Jan van Aken, 51 Jahre alt und Vater von drei Kindern, will in den Bundestag. Wieder zurück dahin, wo er seit vier Jahren für die Linken vor allem gegen deutsche Rüstungsexporte und den Auslandseinsatz der Bundeswehr kämpft. In den gut anderthalb Stunden Zugfahrt spricht er ruhig, witzelt manchmal und wählt seine wichtigsten Sätze gut aus. Er sei ja Naturwissenschaftler. „Botaniker wie ich sortieren alles gleich in Kategorien und Bausteine.“ Schwer vorstellbar, dass van Aken der einzige Politiker in dieser Legislaturperiode war, der vom Bundestag mit einem Ordnungsruf gerügt wurde. In einer Debatte über den Einsatz der Nato in Libyen 2011 nannte er die SPD „Kriegstreiber“. Und er sei stolz darauf. Es sind die Momente, in denen van Aken ziemlich idealistisch klingt.

Warum wollen Sie an die Macht, Herr van Aken?

„Ich will gar nicht an die Macht. Ich bin ein unverbesserlicher Weltverbesser. Aber ich habe gemerkt, dass ich aus der Opposition genauso viel verändern kann wie in der Regierung. Die Greenpeace-Kampagnen zeigen doch, dass man nicht regieren muss, um was zu verändern.“

Als Bundesvorsitzender könnten Sie die Agenda der Linkspartei noch stärker prägen.

„Macht drückt sich nicht an Posten aus. Sondern an dem, was ich bewegen kann. Aber manchmal kann ich in Hamburg auf der Straße in Diskussionen mit Bürgern mehr verändern als im Parlament in Berlin. Und leider wird die Macht der Politik überschätzt: Ich glaube, die Vorstandchefs großer Banken haben in diesem Land mehr Macht als die Kanzlerin.“

Als van Aken noch ein Schüler war, zog er nach Gorleben. Vier Wochen lang demonstrierte er 1980 gegen die Probebohrungen für das Atommüll-Zwischenlager, sie bauten Hütten und Aussichtstürme aus Holz in der „Freien Republik Wendland“, der Boden war staubig, sie schliefen in Schlafsäcken. Hippie-Freiheit. Nur einmal in dieser Zeit fuhr van Aken zurück nach Hause in Reinbek: zur mündlichen Abitur-Prüfung über die Revolution im Iran. Einen Artikel aus dem „Spiegel“ habe er damals zur Vorbereitung gelesen, erzählt van Aken. Mehr nicht. Es ging damals nicht um Schulnoten. Es ging um große Politik, ums Ganze. So sah er das.

Und trotzdem wird es nach der Schule noch viele Jahre dauern, bis van Aken in einer Partei ankommt. Er studiert Biologie in Hamburg, promoviert im Schwerpunkt Botanik. Ende der Neunziger zieht er für Greenpeace Kampagnen auf, vor allem gegen Gentechnik. Der Lebensmittelhersteller Nestlé will Schokoriegel aus gentechnisch veränderten Mais und Zucker auf dem deutschen Markt testen. Van Aken und Greenpeace protestieren, trommeln in der Presse. Kurz darauf zieht Nestlé das Produkt zurück. Wenn Jan van Aken heute über seine Arbeit als Politiker spricht, redet er oft von Kampagnen. Aus der Zeit bei Greenpeace habe er gelernt, dass man nicht regieren muss, um etwas zu verändern.

Es ist auch die Zeit, in der van Aken das Sunshine Project gründet, ein Verein, der den Einsatz von biologischen Waffen weltweit ächten will. An der Universität in Hamburg ruft van Aken eine Forschungsstelle zu Biowaffen ins Leben. Für die Vereinten Nationen reist er als Waffeninspekteur in die Krisenregionen dieser Welt. Vor allem eines fordert er heute als Politiker: ein Kriegswaffenkontrollgesetz, das auch Exporte verbietet. „Solange der Export nicht ausdrücklich im Gesetz verboten ist, wird weiterhin jeder Einzelfall geprüft: Und in praktisch jedem Einzelfall wird dann der Export genehmigt. Auch in Staaten, die gegen Menschenrechte verstoßen“, sagt van Aken. Im Kompetenzteam Linken-Spitzenkandidat Gregor Gysi ist er für Rüstung zuständig. Dabei trat er erst 2007 bei den Linken in Altona ein. „Die Grünen waren mir immer zu unsozial“, sagt er.

Und die Linkspartei? Wer braucht die eigentlich noch, wenn selbst eine Union den Mindestlohn fordert und die FDP die Energiewende mitträgt?

„Ein Linksruck in der Politik ist doch super! Damit haben wir einen wichtigen Schritt erreicht. Natürlich muss die Linkspartei den Wählern auch klarmachen, dass dieser soziale Fokus in der Politik durch uns geprägt wurde. Aber ansonsten ist es gut, wenn andere Parteien bei uns im Programm abschreiben – es braucht die Linke dann aber erst recht, damit die anderen Parteien sich auch nach der Wahl dran halten.“

Es gab auch einen Punkt in van Akens vier Jahren Bundestag, an dem nicht klar war, ob es die Linke überhaupt noch länger geben würde. Im Sommer 2012 stand die Partei vor der Zerreißprobe, Gregor Gysi und Oskar Lafontaine waren zerstritten, Flügelkämpfe belasteten die Partei. Der damalige Vorsitzende Klaus Ernst verlor Macht an allen Fronten und musste kurz darauf zurücktreten. Und die Vergangenheit? Erneut tauchten Dokumente auf, die auch den Spitzenkandidaten der Linken, Gysi, belasten: Es ging auch um mögliche Kontakte zur Staatssicherheit in der DDR, die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen möglicher Falschaussage.

Viele trauen den Linken heute nicht über den Weg, weil sie wissen, was die SED an der Macht einem deutschen Staat angetan hat.

„Ich wäre nicht in die Linke eingetreten, wenn die Partei nicht einen klaren Schlussstrich unter die SED-Vergangenheit und gleichzeitig eine Aufarbeitung der Unfreiheit und der Unterdrückung in der DDR geleistet hätte.“

Noch immer bekomme er beim Straßen-Wahlkampf in Hamburg „Stasi-Partei“ oder „Mauermörder“ zu hören.

Schon Karl Marx gelesen?

„Ehrlich gesagt, noch nicht. Als Linker sollte mir das eigentlich unangenehm sein, oder? Aber ich bin Praktiker der Politik und kein Theoretiker. Geben Sie mir ein politisches Thema und ich ziehe eine erfolgreiche Kampagne auf. Das ist meine Stärke.“

Aber Umverteilen wollen Sie auch.

„Unbedingt! Durch eine Reichensteuer gewinnt der Staat 180 Milliarden Mehreinnahmen durch Steuern. Die Ungerechtigkeit in Deutschland lässt sich nur mit Umverteilung lösen.“

Sie finden Umverteilung gerecht?

„Ich finde eine Reichensteuer gerecht. Viele sagen, die Reichen haben sich das Geld verdient. Da werde ich wütend. Meine Tochter macht eine Ausbildung als Krankenschwester. Die arbeitet wie ein Tier. Ich finde, sie hätte auch 5000 Euro im Monat verdient. Doch sie bekommt nur ein Zehntel davon. Ist das gerecht? Es ist in Ordnung, wenn ein Mensch eine Million Euro besitzt. Aber irgendwo ist eine Grenze erreicht.“

Es gibt diese alten Sprüche der Linken, die früher auch auf Demos und Punkrock-Konzerten kursierten: „Macht kaputt, was Euch kaputt macht!“ Oder: „Das System hat keine Fehler. Das System ist der Fehler!“ Jan van Aken sagt, er würde das heute alles genauso noch skandieren. Sein Weg in den Bundestag führte vom Wendland, über die Proteste in der Hafenstraße, dem Schlauchboot von Greenpeace und Inspektoren-Reisen zum Platz der Republik in Berlin, Hausnummer 1. Dort hat van Aken jetzt sein Abgeordnetenbüro.

Rund 500 Mal ist er die Strecke zwischen Hamburg und der Hauptstadt in den vergangenen vier Jahren gefahren, das hat er ausgerechnet. In den 22 Sitzungswochen pro Jahr fährt er Montag aus Hamburg ab, arbeitet 16 Stunden pro Tag, sitzt in Fachausschüssen oder Parlamentsdebatten, begleitet Botschafter oder Besuchergruppen. „Von Berlin kenne ich eigentlich nur den Weg mit dem Fahrrad von meiner Wohnung in Neukölln zum Bundestag“, sagt er. Jeden Freitag fährt er wieder mit dem ICE zurück nach Hamburg, St. Pauli, zu seiner Familie, den Kindern.

Derzeit ist van Aken wieder viel mit dem Fahrrad unterwegs, nicht in Berlin, sondern im Wahlkampf in Hamburg. Und in Sachen Volksentscheid zum Rückkauf der Energienetze. Die Linke ist dafür, und van Aken wütend auf Bürgermeister. „Olaf Scholz sagt: Das ist zu teuer. Das ist gelogen.“ Der Bürgermeister wisse genau, dass der Rückkauf die Menschen in der Stadt „am Ende keinen Pfennig“ koste. „Warum kämpft Vattenfall denn wie ein Löwe um das Netz? Nicht weil Vattenfall unbedingt ein Verlustgeschäft behalten will. Sondern weil das Unternehmen über Jahre konstant hohe Renditen mit den Netzen verdient.“ Die ruhige Stimme des Naturwissenschaftlers wird im ICE 791 kurz vor Spandau wieder lauter, die Witze sind vorbei. In Jan van Akens Sätze kehrt der Politiker zurück.