Die Köpfe der Krise: Merkel und Hollande zanken, Juncker vermittelt, Draghi hält die Löschkanone bereit – und Cameron schmollt.

Brüssel. 2012 war ein Seuchenjahr sondergleichen für die EU und den Club der 17 Euro-Staaten: Wirtschaftseinbrüche, grassierende Staatsschulden und Griechenlands Niedergang bestimmten die Schlagzeilen. Fünf Strippenzieher haben das europäische Krisentheater dabei besonders geprägt. Die Nachrichtenagentur dapd stellt sie in Kurzporträts vor.

Die Taktiererin

Einen ihrer leidenschaftlichsten Auftritte des Jahres hatte Kanzlerin Angela Merkel (58) vergangenen Monat vor dem EU-Parlament: Zahlreiche Fraktionschefs warfen ihr vor, die Krisenländer per Spardiktat in den Ruin zu treiben. Da platzte der CDU-Chefin der Kragen: Wer bestreite, dass die Schuldigen für das griechische Drama in Griechenland selbst zu suchen seien, der „versündigt sich an den Gewerkschaftern und Arbeitnehmern in Europa“. Die Fratze der „blinden Sparpolitikerin“ lässt sich Merkel nicht überstülpen.

Richtig ist, dass die mächtigste Frau Europas das Geld des deutschen Steuerzahlers zusammenhält: Die als „alternativlos“ gesehene Griechenland-Rettung bleibt gefährlich auf Kante genäht. Ein Vollprogramm für Spanien bremst Berlin ebenso energisch wie direkte Bankenhilfen aus dem Rettungsfonds ESM. Bloß vor der Bundestagswahl keine neuen Anträge durchs Parlament bringen müssen, lautet die Devise. Ausgerechnet die Europäische Zentralbank macht Merkels Taktieren möglich, weil das EZB-Anleihenkaufprogramm die Märkte ruhigstellt.

Doch zahlt die Kanzlerin einen politischen Preis: Die begrenzte Solidarität der Deutschen begrenzt zugleich die Bereitschaft wichtiger Partner, sich auf den notwendigen Umbau der Eurozone einzulassen. Ein Durchgriffsrecht Brüssels in nationale Haushalte? „Non, merci“, heißt es in Paris, solange Merkel nicht mehr Geld zur Euro-Rettung locker macht. Die Chance, die Währungsunion mit einer eigenen Vision kraftvoll voranzutreiben, lässt Merkel verstreichen.

Der Pudding

Als „Flanby“, als Karamellpudding, wurde François Hollande (58) im Präsidentschaftswahlkampf geschmäht. Wegen seiner unscharfen Konturen – körperlich und politisch. Seit Mai ist der Sozialist nun im Amt, doch seine Regierung gilt in Brüssel zum Teil noch immer als „nicht sprechfähig“. Weil sie eigentlich nicht weiß, was sie will. Eine klare Linie ist nicht zu erkennen.

So kämpfte Hollande mit enormem Getöse für einen milliardenschweren europäischen Wachstumspakt. Doch angesichts der leeren Kassen und ramponierten Kreditwürdigkeit Frankreichs gehört er jetzt zu denen, die das mehrjährige EU-Budget zusammenstreichen wollen – die Agrarsubventionen natürlich ausgenommen.

Mit seinem Kampf für Euro-Bonds und direkte Bankenhilfen ist der Élysée-Chef zum Verbündeten der Krisenländer geworden. Dass er kein Rezept hat, den wirtschaftlichen Niedergang der Grande Nation zu stoppen, schwächt sein politisches Gewicht in der EU. Mit Vorgänger Nicolas Sarkozy konnte sich Kanzlerin Merkel meist zusammenraufen. Seit Hollande im Sattel sitzt, ist das deutsch-französische Tandem aus dem Takt.

Der letzte Retter

Am 6. September meldete Mario Draghi (65) Vollzug: Die Europäische Zentralbank werde wieder Staatsanleihen von bedrängten Euroländern kaufen, und zwar „ohne Limit“, erklärte der EZB-Chef. Die Neuauflage der Anleihenkäufe setzte der Italiener gegen massiven Widerstand der Bundesbank durch – und machte sich damit endgültig zum mächtigsten Feuerwehrmann der Währungsunion. In Deutschland wurde das Schreckgespenst der Inflation beschworen, das Programm als verbotene Staatsfinanzierung mit der Notenpresse verurteilt. Doch der EZB-Chef hielt Kurs. Und sein Plan ist bis heute aufgegangen: Die Märkte haben sich beruhigt, obwohl die EZB seit September noch keine einzige Anleihe gekauft hat.

Trotz der deutschen Kritik gehört Merkel zu den Profiteuren: Die beruhigte Lage erspart nach der Griechenland-Rettung neue Milliarden-Hilfsprogramme des ESM, die ihre Bundestagsmehrheit auf die Probe stellen würden. Zugleich ist der Druck gesunken, die Währungsunion grundlegend zu reformieren. Und dennoch bleibt Draghi für Berlin ein unbequemer Partner: Beim Reizthema Bankenaufsicht drückt er aufs Tempo – und will die Aufgabe gegen den Willen Berlins unters EZB-Dach holen.

Sein selbstbewusstes und kraftvolles Krisenmanagement stößt hierzulande zwar auf Skepsis. Für die USA aber hat sich Draghi längst zum wichtigsten Ansprechpartner in der Eurozone gemacht. 168 Mal traf sich oder telefonierte US-Finanzminister Timothy Geithner seit 2010 mit einem Vertreter der Währungsunion. 58 Mal war der EZB-Chef am anderen Ende der Leitung. Das waren gut 20 Kontakte mehr als mit Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU).

Der Mediator

Eurogruppen-Chef Jean-Claude Juncker (58) praktiziert seit 2005 den politischen Dauerspagat: Neben seinem Hauptamt als Luxemburgs Ministerpräsident vermittelt er nebenbei zwischen Südländern und Nordfraktion – woraus in Zeiten der Finanzkrise ein akrobatisches Kunststück geworden ist. Mit Zuckerbrot und Peitsche, diplomatischem Geschick und in vier Sprachen treibt er mal die reformsäumigen Griechen, mal die zögerlichen Deutschen zum Handeln an – ohne dabei freilich die Interessen seines Großherzogtums aus dem Blick zu verlieren, das als Steueroase für Finanzdienstleister reüssiert.

Immer wieder hat sich „Mr. Euro“ für die Sorgenkinder eingesetzt und Berlin zum Einlenken gedrängt. Obwohl ihn die unerfüllten Versprechen der Griechen zur Weißglut trieben, stellte er ihnen als einer der ersten mehr Zeit zum Erreichen ihrer Sparziele in Aussicht. Mit deutschen Koalitionspolitikern lieferte er sich einen regelrechten Schlagabtausch, geißelte das „Geschwätz über den Euro-Austritt Griechenlands“ als Populismus und fragte, mit welchem Recht Berlin die Eurozone eigentlich „wie eine Filiale“ behandele.

Der dienstälteste Regierungschef Europas hat als einziger unter seinen Kollegen die gesamte Entstehung der Währungsunion miterlebt und mitgeprägt. Scheitern lassen will er sie nicht, im Gegenteil: Ein eigener Haushaltskontrolleur und Etat für die Eurozone, gemeinsame Schulden, föderative Züge – mit aller Kraft wirbt Juncker für mehr Integration und Draghis Anleihenkaufprogramm. Doch die permanente Krise und nervenraubenden Nachtsitzungen haben ihn zermürbt, zum Jahreswechsel tritt er ab. Seine Fußstapfen sind groß. Geht es nach ihm, soll „eine prominente Persönlichkeit“ sie füllen.

Der Störenfried

Viele Freunde hat David Cameron (46) in Europa nicht mehr. Die eurokritischen Tiraden und politischen Extrawürste des britischen Premiers hat man reichlich satt in Brüssel. Umgekehrt ist seinen Wählern die EU vor allem eines: Ein Haufen Geld verbrennender Festlandsbürokraten. Großbritannien und die Europäische Union steuern auf den Tiefpunkt ihrer jahrzehntelangen Hassliebe hin. Die Scheidung droht. Und Cameron hat seinen Teil dazu beigetragen.

Die EU ist ihm wenig mehr als ein besserer Binnenmarkt, von einer politischen Union will Cameron nichts wissen. Wenn es ums Geld geht, wird der wirtschaftsliberale Tory zum Getriebenen: Bei der neuen Bankenaufsicht pocht er vehement auf britisches Mitspracherecht, weil er den Atem der Londoner City als weltgrößtem Finanzzentrum im Nacken spürt. Fiskalpakt, Finanztransaktionssteuer? Keine Chance! Und in den Verhandlungen um den künftigen EU-Haushalt feilscht er um jeden Euro, weil seine eigene Partei ihm einen Kostenanstieg quasi verboten hat – ein „Versagen“ könnte Cameron die Wiederwahl kosten.

Aus der Zusammenarbeit in Justiz- und Sicherheitsfragen will sich Großbritannien zurückziehen. In welchen anderen Bereichen die Kooperation mit Brüssel überhaupt noch Sinn macht, und wo sie möglichst bald beendet werden kann, lässt London gerade prüfen. Seinen Wählern hat Cameron schon ein Referendum über ihr Verhältnis zur EU in Aussicht gestellt. Und zu allem Überfluss wollen sich auch noch die vergleichsweise europafreundlichen Schotten abspalten. Zwar bemüht sich Merkel demonstrativ, den Störenfried im Klassenverbund zu halten. Doch in Krisenzeiten ist Geduld Mangelware. Isolieren sich die Briten weiter, dürften ihnen auch die letzten Verbündeten den Rücken kehren.