Militär und Aufständische kämpfen erbittert um die Vormacht in den syrischen Großstädten. Wer sich nicht länger im Haus verschanzen will oder kann, flieht. Europa befürchtet eine Flüchtlingswelle.

Damaskus/Kairo. Angesichts der Bürgerkriegswirren in Syrien wappnet sich Europa für eine Flüchtlingswelle. Bei einem Treffen auf Zypern wollen die EU-Innenminister am Montag über die Situation in den Nachbarländern beraten. Allein über die libanesische Grenze haben sich nach Angaben des Roten Kreuzes binnen zwei Tagen 30 000 Syrer vor den eskalierenden Kämpfen gerettet. Während die Regierungstruppen mit massiven Bombardements um die Vormacht in Damaskus kämpften, riefen die Aufständischen nach eigenen Angaben am Sonntag zum Sturm auf die zweitgrößte Stadt Aleppo. Israel sorgt sich in dem Chaos um den Verbleib der syrischen Chemiewaffen.

Die Arabische Liga wollte am späten Sonntagabend über die Lage beraten. Während Russland und China Sanktionen des UN-Sicherheitsrats blockieren, nehmen die EU-Außenminister das Heft selbst in die Hand. Sie kündigten an, ihre im Mai 2011 verhängten Strafmaßnahmen gegen das Assad-Regime am Montag zum wiederholten Mal zu verschärfen.

Nach Zählung der Syrischen Menschenrechtsbeobachter in London sind seit Beginn der Aufstände vor mehr als 16 Monaten in dem umkämpften Land rund 19 000 Menschen getötet worden.

Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR schätzt, dass sich rund eine Million der insgesamt 21 Millionen Syrer aus Angst um ihr Leben aus ihrer Heimat an sicherere Orte geflüchtet haben. Eine weitere Viertel Million Menschen sollen das Land ganz verlassen haben. Die Versorgungslage habe sich durch die Kämpfe in Damaskus auch in der Hauptstadt verschlechtert, berichtete ein Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuz (DRK) in Beirut. Viele Geschäfte hätten geschlossen, alles sei teurer geworden. Es fehle an Milch für Kinder, Hygieneartikeln und Medikamenten.

Mit Beginn des Fastenmonats Ramadan hatte das syrische Militär am Freitag eine massive Gegenoffensive gegen die Aufständischen gestartet. In den Tagen zuvor hatten die Rebellen die Kämpfe erstmals in die Hauptstadt Damaskus getragen. Den bislang schwersten Schlag versetzten sie Machthaber Baschar al-Assad mit einem Bombenanschlag auf den nationalen Krisenstab, vier seiner engsten Vertrauten starben. Am Sonntag berichteten die Menschenrechtsbeobachter von heftigen Kämpfen in mehreren Vierteln der Handelsmetropole Aleppo. Das Militär setze erstmals Hubschrauber ein.

Allein in Damaskus seien bis zum Nachmittag mindestens 24 Menschen getötet worden. Dort berichtete ein syrischer Journalist dem arabischen Nachrichtensender Al-Dschasira von heftigen Explosionen. Regierungstruppen feuerten Raketen auf den Außenbezirk Barse ab: „Es ist das erste Mal, dass Damaskus dermaßen massiv bombardiert wird.“ Am Samstag hatte das Militär nach Angaben der Opposition den Vorort Schaba überrannt. Wie für alle anderen Informationen gab es dafür von unabhängiger Seite keine Bestätigung.

Den Aufständischen gelang es indes, mehrere wichtige Grenzübergänge zur Türkei und zum Irak unter ihre Kontrolle zu bringen. Arabische Fernsehsender zeigten Bilder vom Übergang Bab al-Salem nördlich von Aleppo, auf denen Kämpfer mit der Rebellenfahne zu sehen waren. Andere demontierten ein lebensgroßes Assad-Bild, das das Dach des Abfertigungsgebäudes geziert hatte. Auch mindestens zwei der vier Grenzposten zum Irak sind nach offiziellen Angaben aus Bagdad in der Hand der Aufständischen.

Im Nachbarland Israel gibt es Befürchtungen, die syrischen Chemiewaffen könnten im Bürgerkriegschaos in die Hände der libanesischen Hisbollah oder des internationalen Terrornetzwerks Al-Kaida fallen. Das will Jerusalem notfalls auch mit Gewalt verhindern. Verteidigungsminister Ehud Barak sagte offen im Fernsehen, Israels Militär bereite sich auf eine solche Entwicklung vor. Syrien besitzt das größte Chemiewaffen-Arsenal im Nahen Osten, unter anderem beträchtliche Mengen der Kampfstoffe Sarin und Senfgas.

Dass Assad die Waffen gegen das eigene Volk einsetzt, hält der israelische Politexperte Ejal Zisser vom Dajan-Zentrum für strategische Studien in Tel Aviv dagegen für unwahrscheinlich. „Sie kämpfen dort auf engstem Raum gegeneinander. Sollte die Armee etwa in Damaskus chemische Waffen einsetzen, würden sie auch den Präsidentenpalast erreichen“, sagte er der Nachrichtenagentur dpa.

Am Samstag gab UN-Generalsekretär Ban Ki Moon bekannt, dass er zwei seiner höchsten Militärexperten nach Syrien schickt: Den Untergeneralsekretär für Friedensmissionen, Herve Ladsous, und – als neuen Leiter der UN-Beobachtermission Unsmis – General Babacar Gaye. Die Mission war am Freitag in letzter Minute um weitere 30 Tage verlängert worden. Ihr bisheriger Führer, der norwegische General Robert Mood, stand aber nicht noch einmal zur Verfügung.

(dpa)