Notstand in Heimen und Haushalten: In der Pflege fehlen trotz Kopfprämien Fachkräfte. Junge Unions-Abgeordnete machen Druck.

Berlin. Deutschland steuert auf einen Notstand in der Altenpflege zu. Bereits heute fehlen rund 30.000 Pflegekräfte, mahnte der Präsident des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste (bpa), Bernd Meurer. Ebenso wie mehr als 20 junge Bundestagsabgeordnete der Union forderte er mit Blick auf die fortschreitende Alterung der Gesellschaft eine rasche Reform der Pflegeversicherung. Wegen der weiter steigenden Zahl von Pflegebedürftigen werden nach bpa-Einschätzung bis 2020 rund 220.000 Pflegekräfte zusätzlich gebraucht. Diese sind aber nicht in Sicht.

Meurer forderte die Bundesregierung auf, rasch zu handeln und Zuwanderung von Pflegekräften zu erleichtern. Auch die angekündigte Pflegereform dürfe „nicht noch mal aufgeschoben werden“. Darauf pochen auch 22 vorwiegend jüngere Unionsabgeordnete. In einem Manifest, über das zunächst die „Süddeutsche Zeitung“ berichtete, fordern sie die Einführung eines von den Versicherten finanzierten Kapitalstocks, aus dem künftig die Pflegekosten mitbezahlt werden sollen.

Weil die Menschen immer älter würden, werde die Pflege ohne eine solche Rücklage schon bald nicht mehr finanzierbar sein. Deshalb müsse mit dem Aufbau des Kapitalstocks umgehend begonnen werden, argumentieren sie. „Pflege wird teurer“, heißt es in dem auch der dpa vorliegenden Papier. „Diesen Herausforderungen muss sich die christlich-liberale Koalition ehrlich stellen.“

Nach Informationen der Zeitung gibt es in der Koalitionsführung Überlegungen, die – wahrscheinlich mit einem steigenden Beitragssatz verbundene – Pflegereform auf die Zeit nach der Bundestagswahl 2013 zu verschieben. Auf welche Seite sich der neue Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) schlage, sei noch ungewiss. Er soll noch 2011 Eckpunkte einer Reform vorlegen. Ein Ministeriumssprecher sagte auf dpa-Anfrage: „Wir stellen die Eckpunkte in diesem Sommer vor“. Dies sei vor dem kalendarischen Herbstbeginn am 23. September.

Initiatoren des Aufrufs sind der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Jens Spahn (CDU), sowie der Parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe, Stefan Müller. Spahn sagte, es gebe Kräfte in der Koalition, „die die dringend notwendige Umgestaltung der Pflegeversicherung auf die lange Bank schieben oder sich mit einem Mini-Umbau begnügen wollen“. Das machten die jungen Abgeordneten nicht länger mit.

Müller sagte: „Ein System, in das junge Menschen heute einzahlen, aber wissen müssen, dass sie aus diesem System nicht mehr die entsprechende Leistung herausbekommen werden, ist nicht generationengerecht“. Und: „Ohne Reform wird das System pleite gehen.“

Um die Fachkräftelücke zu schließen, verlangt bpa-Chef Meurer eine bessere Aus- und Weiterbildung sowie die Wiederaufnahme der Finanzierung des dritten Umschulungsjahres für Arbeitslose. Nötig sei auch die Zuwanderung von Fachkräften aus Nicht-EU-Ländern sowie die unbürokratische Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse. Ansonsten „steuern wir auf ein Desaster zu“. Der Vize-Vorsitzende der Unions-Bundestagsfraktion, Johannes Singhammer (CSU), lehnte die Anwerbung ausländischer Kräfte ab: „Das Problem kann nur in Deutschland gelöst werden“, sagte er der „Welt“.

Meurer berichtete von Fällen aus Süddeutschland, wo mit „Kopfprämien“ von bis zu 3000 Euro versucht werde, Pflegepersonal abzuwerben. Damit werde der Mangel aber nicht behoben, sondern nur verschoben, kritisierte er. Einer besseren Bezahlung der Pflegekräfte widersetzen sich nach seiner Darstellung häufig die Pflegekassen und Sozialämter als Kostenträger.

Nach einer vom bpa in Auftrag gegebenen Studie bietet die Pflegebranche auch langfristig gute Beschäftigungschancen: Bis 2050 sei mit mehr als 2,1 Millionen Stellen zu rechnen. Derzeit sind es 970.000. Der Autor der Studie, Dominik Enste vom arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft (IW), wies darauf hin, dass die Pflegebranche bei einem Umsatzvolumen von zuletzt 33 Milliarden Euro mit gut elf Milliarden Euro zum Steuer- und Sozialabgabenaufkommen beitrage. (dpa)