Russlands Premier möchte mehr Freihandel mit der EU erreichen, Merkel will den Vorstoß prüfen. Putin spricht von “Sackgasse“.

Berlin. Es könnte besser sein: Das wirtschaftspolitische Verhältnis zwischen Russland und Deutschland bleibt trotz des Vorstoßes von Ministerpräsident Wladimir Putin zu mehr Freihandel mit der EU angespannt. Bei seinem Besuch am Freitag in Berlin beklagte Putin die gegenwärtige Wirtschaftskooperation mit der Europäischen Union als Sackgasse für sein Land und forderte von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mehr Verständnis für Russlands Probleme. Die Bundesregierung würdigte seinen Vorstoß zu einem gemeinsamen Wirtschaftsraum von Lissabon bis bis Wladiwostok zwar als visionär, machte aber erneut Skepsis deutlich. Am Abend wollte Merkel Putin im Kanzleramt empfangen.

Regierungssprecher Steffen Seibert sagte, die Bundesregierung begrüße die „visionären Vorstellungen von einer europäischen Freihandelszone vom Atlantik bis an den Ural“. „Das ist alles hochinteressant und wird von der Bundesregierung geprüft.“

Merkel hatte am Donnerstag auch mit Blick auf die – beschlossene, aber noch nicht praktizierte – Zollunion von Russland, Kasachstan und Weißrussland sowie wenig berechenbarer russischer Importzölle gesagt, zuletzt habe Russlands Vorgehen „nicht gerade in die richtige Richtung“ gezeigt. Zunächst müsse Moskau auch Mitglied der Welthandelsorganisation WTO werden.

Putin sagte dazu bei einem Führungskräftetreffen der „Süddeutschen Zeitung“, in der er seinen Vorstoß beschrieben hatte: „Es bedeutet, dass Frau Merkel meinen Artikel gelesen hat. Das ist ja an sich schon gut.“ Er stimme ihr zu, dass es bei einem solchen Projekt Probleme gebe. Russische Investoren hätten in der EU aber viel mehr Schwierigkeiten als europäische Investoren in Russland. „Wir müssen die Sackgasse in eine Zweibahnstraße ändern“, sagte Putin.

Er verwies auf die gescheiterte Übernahme des Autobauers Opel durch den österreichisch-kanadischen Zulieferer Magna und die russische Sberbank. Russischen Investoren werde oft „die Tür einfach verschlossen“. Putin mahnte: „Wenn wir erfolgreich sein wollen, wenn wir konkurrenzfähig sein wollen, dann ist die Annäherung Europas und Russlands unausweichlich.“ Er berief sich auch auf Altkanzler Helmut Kohl (CDU), der schon vor 15 Jahren davon gesprochen habe, dass eine Bündelung der Kräfte Russlands und Europas unausweichlich sei. „Ich glaube, dass Herr Kohl vollkommen Recht gehabt hat.“

Bei einem Auftritt vor dem Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft versicherte Putin, Russland sei seinen Weg für eine Aufnahme in die WTO in Abstimmung mit der EU „fast vollständig gegangen“.

Der scheidende Vorsitzende des Ost-Ausschusses, Klaus Mangold, forderte Russland auf, Zollschranken und restriktive Visaregelungen abzubauen. Für die Handelsbeziehungen zu Russland sei ein „neuer großer Entwurf“ nötig. Deutschland und Russland sollten einen Neubeginn wagen und sich „nicht verhaken in den alten Problemen“. Eine Annäherung der EU und Russlands in der Wirtschaftspolitik sei die konsequente Fortsetzung der Annäherung der Nato und Moskaus.

Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) bewertete Putins Freihandelsvorstoß positiv, meinte aber: „Da sind sicherlich aber noch ein paar Hausaufgaben zu machen.“ Der Russlandkoordinator der Regierung, Andreas Schockenhoff (CDU), mahnte in der „Stuttgarter Zeitung“: „Freihandel würde Rechtssicherheit, Investitionssicherheit, ein gemeinsames Wertefundament voraussetzen. Diese Kriterien sind noch nicht erfüllt.“Außenminister Guido Westerwelle (FDP) sagte der „Süddeutschen Zeitung“, der Vorschlag zeige, wie eng Deutschland und Russland in den strategischen Zielstellungen beieinander lägen.

Beim Treffen von Merkel und Putin sollte es vorrangig um wirtschafts- und energiepolitische Themen gehen. Ob dabei auch über einen möglichen Ausstieg des Energieriesen Eon beim weltgrößten, russischen Gaskonzern Gazprom gesprochen werden sollte, blieb offen. Eon hält über seine Tochterfirma Ruhrgas ein Aktienpaket von 3,6 Prozent an Gazprom. Diese Anteile will angeblich die russische Staatsbank VEB übernehmen. Der Marktpreis der Aktien wird auf rund 4,5 Milliarden Dollar (rund 3,4 Milliarden Euro) taxiert.

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Putin umwirbt Europa

Russland sei ein hinter der europäischen Zivilisation zurückgebliebenes Land, das alles einholen will, was es in 200 Jahren versäumt hat. Das harsche Urteil Kurt Tucholskys ist rund 80 Jahre alt. Wenn auch in dieser Härte heute längst nicht mehr gültig, so enthält Tucholskys Analyse auch im Jahre 2010 noch etliche Körnchen Wahrheit.

Die Frage, welche Position das russische Riesenreich in einer künftigen multipolaren Welt einnehmen soll, in der sich neben den USA mit der EU, China, Indien, Brasilien, Japan, Indonesien und möglichen weiteren Global Playern weit mehr Kraftzentren als in früheren Jahrzehnten etablieren, beschäftigt natürlich in erster Linie die Führung in Moskau.

Bezeichnenderweise hat sich der russische Ministerpräsident Wladimir Putin nun mit einer kühnen Vision zu Wort gemeldet - sicher nicht zufällig einen Tag vor seiner Ankunft zu Gesprächen in Deutschland. Heute will er mit Bundeskanzlerin Angela Merkel über Energie und andere Themen reden.

Am selben Tag einigten sich Moskau und die EU über die Bedingungen für Russlands Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO; er könnte schon im ersten Halbjahr 2011 erfolgen.

Putin, früherer und möglicherweise auch wieder künftiger Präsident, sprach sich in einem Gastbeitrag für die "Süddeutsche Zeitung" für die Schaffung einer gigantischen "Wirtschaftsgemeinschaft von Lissabon bis Wladiwostok" aus - heftig applaudiert vom früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder, heute Aufsichtsratschef des Pipeline-Konsortiums Northstream für russisches Gas. Putins Vorstoß hängt möglicherweise mit der gewachsenen politischen Statur des amtierenden Präsidenten Dmitri Medwedew zusammen. Der konzilianter auftretende Medwedew kooperiert gut mit dem Westen und scheut sich nicht, öffentlich Defizite seines Landes aufzuzeigen. In seinem Videoblog meinte Medwedew gerade, die russische Demokratie sei noch "unvollkommen", zudem drohe dem Land die politische Stagnation. Putin, der im Westen eher als jemand gilt, der den verloren gegangenen Supermachtstatus wiederherstellen will, hat offenbar das Bedürfnis, hier Boden gut zu machen.

Als Zukunftsvision für Europa schlägt er nun eine enge Partnerschaft mit der EU vor und dabei "Strategische Allianzen" auf den wichtigsten industriellen und technologischen Feldern wie beim Schiffs-, Auto- und Flugzeugbau, bei der Kernenergie, der Medizin- und Pharmatechnik. Eine "neue Industrialisierungswelle" solle über den europäischen Kontinent rollen, schrieb Putin. Außer einem gemeinsamen Kontinentalmarkt und einer Freihandelszone mit Kapazitäten in Höhe von Billionen Euro seien sogar "fortgeschrittenere wirtschaftliche Integrationsformen" denkbar. Vor allem aber die "Idee eines gemeinsamen Energiekomplexes pocht buchstäblich an die Tür". Der gegenwärtige Stand der Zusammenarbeit entspreche einfach nicht mehr den gemeinsamen Herausforderungen.

Natürlich, so fordert Putin, müsse dann aber der Visumzwang für russische Bürger fallen, da sonst eine echte Partnerschaft weiter behindert bliebe. Die Visafreiheit solle den "Anfang einer echten Integration von Russland und der EU manifestieren". Auch betont der Ministerpräsident, der immer noch als mächtigster Mann in Russland betrachtet wird, die Annäherung zwischen seinem Land und der EU könne "unmöglich gegen jemanden gerichtet sein". Eine "Abschwächung der Beziehungen zu traditionellen Partnern und Verbündeten" werde damit keineswegs verlangt. Es ist ein vorbeugender Hinweis vor allem an die Adresse der Amerikaner, die eine solche Verflechtung mit Argwohn betrachten könnten.

Ohne Frage bietet sich Russland für eine vertiefte wirtschaftliche Kooperation mit der EU an. Putin, der den Fall der Sowjetunion als "die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts" bezeichnet hat, vergisst nur zu erwähnen, dass Russland mit seinem autoritären Machtapparat und der düsteren Bilanz in Sachen Menschenrechte und Pressefreiheit in den Augen vieler Europäer gegenwärtig noch nicht die ideale Zivilgesellschaft darstellt, mit der man sich integrativ verbinden möchte.