Noch vor dem Ball rollt bei der EM eine nie dagewesene Protestwelle. Boykottdrohungen und Rassismusvorwürfe statt Fan-Euphorie begleiten den Auftakt. Auch der Fall Timoschenko lässt das Turnier in Polen und der Ukraine zur politischsten Fußball-EM werden.

Kiew/Warschau. Historischer Flankenwechsel: Europas Fußball-Elite spielt erstmals in zwei Ländern des früheren Ostblocks um den begehrtesten Silberpokal des Kontinents. Boykottdrohungen und Rassismusvorwürfe machen das vierwöchige Turnier in Polen und der Ukraine zur politischsten Fußball-Europameisterschaft . Massiv setzt sich vor allem Deutschland für eine Freilassung der inhaftierten ukrainischen Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko ein. Die Führung in Kiew weist die Forderungen zurück. Trotz des Streits hofft der Westen auf eine weitere Annäherung der Ex-Sowjetrepublik, damit das zweitgrößte Land Europas nicht Russland in die Arme fällt.

Schon bei der EM-Bewerbung war Polen klar: Es geht nicht nur um Ballsport. Das Turnier soll beweisen, dass Europa nicht an den Flüssen Narew und Bug endet und dass die Ukraine zu Europa gehört. Zwar haben sich die politischen Konstellationen in Kiew seit der Vergabe des Großereignisses im April 2007 verändert. Doch als Fürsprecher osteuropäischer Nachbarn sieht sich Polen nach wie vor.

Kaum eine andere Regierung in der Europäischen Union setzt sich so für die Partnerschaft mit ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten ein wie die polnische Führung. Als Land, das als erstes der kommunistischen Staaten Ostmitteleuropas Demokratie erkämpfte, sieht sich Polen dem Erbe dem Ringen um Freiheit und Menschenrechte verpflichtet. Für das Land an der Ostgrenze der EU ist es eine klare Sache: Wirtschaftlicher Austausch mit den östlichen Nachbarn fördert auch die Entwicklung der ostpolnischen Regionen, die zu den ärmsten der EU gehören. Mindestens so wichtig aber ist, das eine prowestliche Ukraine für eine Abkehr von Russland stehen könnte. Es war auch dieses Argument, das etwa Staatspräsident Bronislaw Komorowski in die Diskussion über einen möglichen Boykott der Ukraine einbrachte: Eine derartige Kränkung werde das Nachbarland nur noch näher an Moskau binden. Und auch wenn sich in den vergangenen Jahren das russisch-polnische Verhältnis entspannt hat: Ein ukrainischer Nachbar mit Anbindung an Europa wird in Warschau viel lieber gesehen.

Mit der Vergabe des Turniers in den früheren Ostblock traf die Europäische Fußball-Union UEFA 2007 eine ebenso mutige wie riskante Entscheidung. Der Dachverband wollte gut zwei Jahre nach der prowestlichen Orangenen Revolution in Kiew auch ein politisches Zeichen setzen. Der Abstimmungssieg gegen Konkurrent Italien überraschte die Führung in Kiew damals mitten in einer Staatskrise. „Die Ukraine ist eine junge Demokratie, da kann es so eine unsichere Lage geben. 2012 ist das vergessen“, meinte Boxweltmeister Vitali Klitschko seinerzeit. Er irrte: Die Lage ist weiter höchst instabil. Viele Blicke richten sich schon jetzt auf die Partie zwischen Deutschland und den Niederlanden am 13. Juni in Charkow – jene Stadt, in der die in Haft erkrankte Timoschenko von Berliner Ärzten behandelt wird. „Business as usual“ ist an diesem Tag kaum denkbar. Wie aufgeladen die Stimmung in der Ukraine knapp fünf Monate vor richtungsweisenden Parlamentswahlen ist, verdeutlicht eine nicht genehmigte Zeltstadt im Zentrum von Kiew. Hier demonstrieren Timoschenko-Anhänger für eine Freilassung der Oppositionsführerin. Dauerproteste direkt an einer EM-Fanmeile – das gab es noch nie.

Auch frühere Fußball-Europameisterschaften waren aber von großer Politik belastet. Bei der EM 1960 weigerte sich Spanien, zu einem Qualifikationsspiel in die Sowjetunion zu fliegen. Vier Jahre später boykottierte Griechenland eine Partie gegen Albanien. Und bei der EM 1976 in Jugoslawien, die als Finalrunde mit nur vier Teams gespielt wurde, prangte ein roter Stern im offiziellen Logo des Turniers. Die Kiewer Zeitung „Serkalo Nedeli“ erinnerte unlängst daran, dass die Olympischen Winterspiele 2014 und die Fußball-Weltmeisterschaft 2018 beide in Russland stattfinden und sich Ex-Sowjetrepubliken verstärkt um sportliche Großereignisse bewerben. Die „immer noch westlich geprägte“ Sportwelt solle das doch positiv sehen, schrieb das Blatt. „Die EM 2012 stößt das Tor nach Osten weit auf. Endlich!“ (dpa)