Was lesen? Abendblatt-Redakteur Thomas Andre und Literaturhaus-Chef Rainer Moritz über aktuelle Bestseller, die es in sich haben.

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Der Brexit treibt auch Schriftstellerinnen und Schriftsteller um, und manche ganz besonders. Ian McEwan zum Beispiel so sehr, dass er jetzt, so ist zu vermuten, ziemlich fix eine Novelle aus der Hüfte geschossen hat. Sie trägt den Titel „Die Kakerlake“ und ist das zweite Buch des englischen Bestsellerautors in diesem Jahr nach dem Roman „Maschinen wie ich“ im Sommer. Ziemlich deutlich zitiert McEwan Kafkas „Die Verwandlung“, wenn er, natürlich, gleich zu Anfang eine Kakerlake aus den Houses of Parliaments nach einer folgenschweren Mutation als Premierminister aufwachen lässt – mit rotblondem Haar.

Auch andere Regierungsmitglieder, das stellt die verwandelte Kakerlake bei der ersten Kabinettssitzung fest, stammen aus der Kanalisation. Der Premier hängt der Wirtschaftsidee des Reversalismus an, und die klingt reichlich grotesk: Man zahlt für seine Arbeit und wird für seine Einkäufe bezahlt. Die Briten wollen künftig so agieren, weltweit als einzige. Wie gesagt: grotesk. Und fast so irrlichternd, als wolle man die EU verlassen.

Auch „Herbst“ handelt vom Brexit

McEwan hat also eine derbe, die Wirklichkeit maximal zur Kenntlichkeit entstellende Satire geschrieben, in der es etliche uns wohlbekannte Bezüge zur Gegenwart gibt. Ob die gelungen ist, besprechen Literaturhaus-Chef Rainer Moritz und Abendblatt-Redakteur Thomas Andre in der neuen Folge von Next Book Please.

Auch vom Brexit, derweil nur am Rande, handelt Alis Smiths Roman „Herbst“. Dieser ist der erste von vier Teilen eines Jahreszeiten-Zyklus und auch der erste, der auf Deutsch erscheint. Der Brexit taucht in diesem feinen, eleganten und eigenwilligen Werk nur am Rande auf; eigentlich geht es mit den beiden Hauptfiguren Elisabeth, einer jungen Literaturwissenschaftlerin, und Daniel Gluck, einem 101-Jährigen, um den Dialog zwischen den Generationen, über Liebe und Freundschaft, das Vergehen der Zeit und die Unwahrscheinlichkeit von zwischenmenschlichen Verbindungen. Und es geht um die feministische Pop-Art der Sechzigerjahre und die Künstlerin Pauline Boty. Das hier, das ist auch ein Buch über Kunst.

Revisionismus bei Steffen Kopetzky?

Ebenfalls besprochen wird diesmal „Was man sät“, das Romandebüt der Niederländerin Marike Lucas Rijneveld. Als der Sohn einer strenggläubigen Bauernfamilie stirbt, tritt bei allen Familienmitgliedern ein Trauma zutage. Über den Verlust wird kaum gesprochen, und auch die zwölfjährige Jas muss mit der Erfahrung allein fertig werden. Rijneveld schreibt sprachlich dicht über das erschwerte Erwachsenwerden des Mädchens, das seinen Sexualtrieb entdeckt und sich gleichzeitig in dunklen Fantasiewelten verliert. Eine Entdeckung, sind sich die beiden Literatur-Podcaster einig.

Der letzte diesmal behandelte Titel ist Steffen Kopetzkys „Propaganda“, der zur Gattung des Antikriegsromans gehört. Sein Held John Glueck findet sich als deutschstämmiger Amerikaner im Zweiten Weltkrieg im Hürtgenwald wieder. Dort wurde eine der letzten großen, für die Amerikaner enorm verlustreichen Schlachten geschlagen.

Der gerechte Kampf der Amerikaner gegen Nazi-Deutschland ist das Gegenstück zum Vietnamkrieg, gegen den John Glueck später zu Felde zieht. „Propaganda“ ist unter anderem eine Hommage an die amerikanische Literatur: Auch, weil Bukowski, Salinger und besonders Hemingway ihre Auftritte haben. Dem Roman wurden Revisionismus und Verherrlichung der Wehrmacht vorgeworfen. Was es damit auf sich hat, wird in dieser Podcastfolge erörtert.