Hamburg. Fabian Boll über die “grausamen“ Fußballspiele in seiner aktiven Zeit und seine noch immer große emotionale Bindung zum Kiezclub.

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Wenn Fabian Boll (41) an diesem Sonnabend gegen 13 Uhr das Millerntor-Stadion betritt, wird es wieder da sein. Dieses Kopfkino, diese Bilder, die vor dem inneren Auge ablaufen, wenn die „Hells Bells“ erklingen und 14 wunderschöne Jahre im Schnelldurchgang durchs Gedächtnis rasen. „St. Pauli war die schönste Zeit meines Lebens. Ich freue mich immer, wenn ich ans Millerntor komme. Auch wenn die Fans natürlich unglaublich fehlen“, erklärt der Kultprofi, der als Co-Trainer von Holstein Kiel nun zum zweiten Mal als Gegner gegen seine große Fußballliebe antreten muss.

Boll und St. Pauli – das war, nein, das ist mehr als nur eine Episode seines Berufslebens. Beim Kiezclub wurde „Boller“, wie ihn alle rufen, vom Fan, der das Team auf der Tribüne anfeuerte, zum Spieler, zum Kapitän, zum Sinnbild der „Freibeuter der Liga“.

„Ich habe letztlich den Traum der Fans gelebt. Aus der Kurve auf den Platz. Die Niederungen der Vierten Liga mitgemacht, und plötzlich stehst du auf Schalke in der Bundesliga neben Raúl oder beim HSV neben Ruud van Nistelrooy. Da denkt man sich: Mensch, so scheiße ist das ja alles gar nicht gelaufen“, sagt Boll im Abendblatt-Podcast Millerntalk. Er bekommt noch heute Gänsehaut, wenn über den Zusammenhalt des Teams spricht, das Herz zeigte und den Verein lebte.

Warum Boll nicht bei St. Pauli blieb

Lange Zeit konnte man sich nicht vorstellen, dass Boll jemals für einen anderen Verein arbeitet. Doch der Abschied verlief nicht geräuschlos. St. Pauli vergab schnell seine Nummer 17 wieder und machte keine großen Anstalten, den Publikumsliebling langfristig an den Verein zu binden. Die aktuelle Führung des Vereins will lieber nach vorne schauen, statt die Vergangenheit zu glorifizieren. Dabei muss das eine ja nicht das andere ausschließen.

„Ich habe das damals mit Oke Göttlich besprochen. Dass Spieler wie ,Schnecke‘ Kalla oder Marius Ebbers als Fußballgott tituliert werden, kann nicht mit einem Präsidiumsbeschluss auf einer Mitgliederversammlung verneint werden. Das ist das Ergebnis harter Arbeit der Spieler“, sagt Boll, der glaubt, dass andere Vereine ihren verdienten Spielern eine andere Wertschätzung entgegenbringen. „Beim FC Schalke gibt es Choreografien für die ,Eurofighter‘. Aber ich bin völlig cool mit St. Pauli. Da ist nichts hängen geblieben, ich mag den Verein nach wie vor“, sagt Boll.

Deshalb leidet er als Fan auch besonders mit dem Kiezclub mit. Vor dem Spiel trennen Kiel und St. Pauli 19 Punkte. „Das hätte ich nicht wirklich gedacht. Als Schulle mir sagte, dass er Cheftrainer wird, dachte ich: Gut für ihn, aber scheiße für uns in Kiel. Ich dachte, St. Pauli geht mit ihm durch die Decke“, gesteht Boll, der ein hervorragendes Verhältnis zu Schultz pflegt, den WhatsApp-Kontakt zuletzt aber ein wenig ruhen ließ. „Ich habe lange überlegt, ob ich ihm überhaupt schreiben soll. Es wirkt immer ein wenig großkotzig, wenn man Zweiter ist. Aber ich habe ihm nur das Beste gewünscht. Natürlich bis auf zweimal im Jahr. Sonst darf er jedes Spiel gewinnen“, sagt Boll.

Fabian Boll lässt Beruf als Polizist ruhen

So sehr er die Zeit bei St. Pauli wertschätzt, so sehr glaubt Boll auch, dass es vielleicht etwas Gutes hatte, seinen Herzensclub zu verlassen. Der Polizist, der vor seinem Amtsantritt in Kiel zum Hauptkommissar befördert wurde und den Beruf derzeit ruhen lässt, hat sein berufliches Glück an der Förde gefunden.

Im Sommer 2019 rief der damalige Kieler Cheftrainer und ehemalige St.-Pauli-Coach André Schubert an und bot ihm den Job des Co-Trainers an. Mittlerweile hat sich an der Förde eine kleine Hamburger Kolonie gebildet. Torwarttrainer Patrick Borger, Sportchef Uwe Stöver und Topstar Fin Bartels waren alle für St. Pauli aktiv.

„Es hat geholfen, dass mein ehemaliger Zimmernachbar Paddy Borger da war. Als der Anruf kam, bin ich gerade 40 Jahre alt geworden und hatte eigentlich nicht noch mal vor, mein Leben auf links zu drehen. Ich hatte eine hohe Lebenszufriedenheit, aber es war richtig, nach Kiel zu gehen“, erinnert sich Boll.

Schafft Boll mit Zweitligist ein Novum?

Zumal Holstein Kiel mittelfristig das Potenzial hat, die Bundesliga anzugreifen. Bisher gab es in der Beletage des deutschen Fußballs noch kein Team aus Schleswig-Holstein, die Stadt an der Ostsee war eher als Handball-Mekka durch den amtierenden Champions-League-Sieger THW Kiel bekannt. „Auch durch die jüngsten Erfolge steht man immer ein wenig im Schatten des THW, aber Holstein hat sich völlig berechtigt einen Platz auf der Fußball-Landkarte erarbeitet. Man kann nur den Hut davor ziehen, wie sich der Club entwickelt hat. In den vergangen sieben Jahren hat sich der Zuschauerschnitt verzehnfacht“, lobt Boll.

Wie schön Aufstiege sein können, weiß „Boller“ nur zu gut. „Der Aufstieg ist jetzt nicht das öffentlich ausgerufene Ziel, aber natürlich ist es – ohne despektierlich klingen zu wollen - interessanter, wenn der BVB kommt als Sandhausen oder Regensburg. Wir sind auf einem sehr guten Weg, den wir jetzt erstmal weitergehen“, sagt Boll und blickt nach vorne.

Doch sein eigener Weg führt ihn zunächst einmal zu seinem ersten Geisterspiel ans Millerntor. Eine besondere Szenerie an einem ganz besonderen Ort für Fabian Boll.