Hamburg. Lars Haider spielt mit Kunsthallen-Direktor Alexander Klar “Ich sehe was, was du nicht siehst“. Heute: ein Werk von Auguste Rodin.

Einmal die Woche spielen Hamburgs Kunsthallen-Direktor Alexander Klar und Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider „Ich sehe was, was du nicht siehst“ – und zwar mit einem Kunstwerk. Eine halbe Stunde schauen sich die beiden ein Gemälde, eine Fotografie oder eine Skulptur an und reden darüber: „Ein Gespräch ist die beste Möglichkeit, Kunst zu erschließen“, sagt Alexander Klar.

Die Körperspannung ist von weitem sichtbar, die Pose erinnert zunächst an antike Statuen, an Olympioniken womöglich. Ein gut durchtrainierter Mensch, der gewillt scheint, alles für sich oder andere zu tun? All das könnte man meinen. Aber: So kann man sich irren. Denn die Vorgeschichte, die mit „Pierre de Wiessant“ von Auguste Rodin (1840 – 1917) verbunden ist, kommt aus einer ganz anderen Richtung als dem frühen Leistungssport.

Mit diesem Männer-Akt aus Bronze erinnert der Künstler an einen der „Bürger von Calais“, eine Skulpturen-Gruppe, für die er 1884 einen Auftrag erhielt. Ihre Geschichte geht auf eine Begebenheit während des Hundertjährigen Kriegs zurück; sechs angesehene Männer aus Calais boten sich 1347, nach langer Belagerung ihrer Stadt, dem englischen König Edward III. als Geiseln an. Nur das Mitleid der englischen Königin bewahrte sie vor dem Tod und Calais vor der Zerstörung. Einer von ihnen war: Pierre de Wiessant.

Rodin porträtiert Pierre de Wiessant angespannt und verzweifelt

Diese Figur ist eine – noch unbekleidete – Vorstudie für den späteren Pierre, wie die anderen mit einer zerrissenen Tunika und mit einem Strick (um den Faltenwurf für die finale Version zu studieren, hatte Rodin seine leicht überlebensgroßen Figuren mit feuchter Leinwand behängt).

Pierre de Wiessant porträtierte Rodin geprägt von ängstlicher Vorahnung: angespannt, verzerrte Gesichtszüge, den Blick auf den Boden gerichtet, eine Hand verzweifelt erhoben. Ein gebrochener Held, der in einem Moment persönlicher Schwäche verewigt wurde.

Rodin wollte keine idealisierte Gestalt zeigen, sondern ein Individuum im Angesicht des drohenden Todes. Um jede Überhöhung auszuschließen, hatte er das Denkmal ohne Sockel geplant. Das Gegenüber aus Fleisch und Blut soll auf Augenhöhe sein, „nur wenig emporgehoben über den Alltag, so als stünde der bange Aufbruch immer bevor“, schrieb der Dichter Rainer Maria Rilke später, der für einige Monate Rodins Privatsekretär war.

Die Kunden waren zunächst nicht erfreut gewesen, so hatten sie sich das Andenken an ihre lokalen Helden nicht vorgestellt. Diese Skepsis gab sich. Inzwischen zählen die „Bürger von Calais“ zu Rodins Hauptwerken. Als sie eingeweiht wurden, schrieb ein Zeitzeuge über diesen Anblick: „Keine szenischen Effekte der Gruppe. Nur expressive, reine und feinsinnige Formen.“

Dieses und weitere Werke können Sie hier in der Online-Sammlung der Kunsthalle sehen.