Hamburg. Sie sollte bei der Premiere von „Manon“ in der Staatsoper singen: Die Sopranistin im Podcast über laute Tenöre und das Etikett “Diva“.

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Man probt und probt und am Ende ist Premiere? Auch diesmal nicht, immer noch nicht. Die Sopranistin Elsa Dreisig sollte am 24. Januar in der Hamburger Staatsoper die Titelpartie in Massenets „Manon“ vor Publikum singen. Corona stutzte diesen Spiel-Plan auf eine einzige Vorführung, einen Live-Stream als Video und fürs Radio, immerhin.

Ihr Auftritt als Fiordiligi in der sensationellen „Così fan tutte“, die im vergangenen Sommer bei den Salzburger Festspielen trotz Corona vor halb vollem Haus möglich gemacht wurde, gab Dreisigs ohnehin steiler Karriere einen weiteren Schub. Glücklich ist die Wahl-Pariserin oft – aber: mit sich zufrieden? Ganz anderes Thema.

Sie haben lange geprobt, aber jetzt kann auch die „Manon“ nicht als echte Premiere stattfinden…

Elsa Dreisig: Ja, aber mir ist es lieber zu proben, als nichts zu tun. Es bringt etwas Struktur ins Leben und macht Spaß, auch wenn es einen bitteren Beigeschmack gibt. Natürlich hätte ich diese „Manon“ lieber auf einer Bühne vor Publikum gezeigt, aber es war auch eine sehr schöne Probenzeit.

Und alles coronakompatibel…

Elsa Dreisig: Wir haben keinen direkten Kontakt, ich darf meinen Partner nicht berühren. Natürlich hat man manchmal Lust auf eine spontane Geste, aber all das darf ich nicht, ich muss in meiner kleinen Blase bleiben. Wir sind auf der Bühne und müssen wirklich in der Rolle sein. Wenn ich die Manon singe, kann ich nicht an Corona denken. Es muss spontan bleiben, auch mit den Regeln. Das war die Herausforderung.

Ihre Mutter, eine Opernsängerin, hat Ihnen den Namen einer Hauptrolle aus Wagners „Lohengrin“ gegeben. Die Tochter sollte also unbedingt Richtung Bayreuth?

Elsa Dreisig: Das war schon bewusst. Und meine Großmutter hieß Else, ein sehr beliebter Name in Dänemark. Meine Mutter und mein Vater, er war Opernsänger, sind sich bei einer Produktion von Debussys „Pelléas et Mélisande“ begegnet, und ich sollte einen Namen bekommen, der mit Oper zu tun hat.

Sie sind als Theaterkind groß geworden, hinter den Kulissen. Das war die Droge, die es für Sie brauchte – Sie haben schon früh im Opernchor gesungen -, und es hat auch niemand gesagt: Kind, werd‘ etwas Ordentliches?

Elsa Dreisig: Ich habe fast schon gesungen, bevor ich sprechen konnte. Als Kind hatte ich auch gedacht, ich hätte die schönste Stimme auf der Welt. Meine Mutter hat mich in Lyon in den Kinderchor gebracht, und nach einer Woche dort wusste ich genau, dass ich das mag und mich wohlfühle.

Abgesehen von der interessanten Kombination aus Französisch und Dänisch war das Schönste, was ich in Ihrem Lebenslauf gefunden habe, die „4 Dreisigs“, Ihre Familien-Combo aus vier Sopranistinnen: Ihre Mutter, Ihre Tante, Ihre Cousine und Sie. Ein bisschen wie die Kelly Family.

Elsa Dreisig: Es ist lustig, wie sehr man etwas mag, wenn es in der Familie stattfindet.

Es sind ja eigentlich sogar fünf Dreisigs, Cousin Flemming am Klavier zählt auch noch mit. Welches Repertoire singen Sie?

Elsa Dreisig: Eine Mischung aus Opernarien und Liedern, oder wir teilen uns eine Arie: Die erste Strophe singt meine Mutter, die zweite ich und so weiter. Manchmal auch Chor-Sachen für Frauenchor. Man muss auch sagen: Mit Familie zu arbeiten ist nicht einfach (lacht). Aber ich bin auch immer glücklich, wenn ich daran denke, dass ich in die Musik geboren wurde.

Sie sind mit 17 aus dem Kinderchor raus und mit 18 zum Studium nach Paris – es sollte aber zunächst Schauspiel sein.

Elsa Dreisig: Das hat ein bisschen mit der Sopranistin Natalie Dessay zu tun. Irgendwo hatte ich gelesen, dass sie als Schauspielerin angefangen hatte. Ich war so begeistert von ihrer Präsenz auf der Bühne, das wollte ich unbedingt. Auf altmodisches Schauspiel in der Oper reagiere ich ganz allergisch. Alte Aufnahmen liebe ich, die Stimmen waren wunderbar. Aber auf der Bühne? Das kann ich nicht anschauen. Nur Callas hat etwas Neues gebracht.

Sie sind also lieber Action-Sängerin?

Elsa Dreisig: Ja, das macht mir Spaß. Natürlich verstehe ich, dass so etwas für die Stimme nicht ideal ist. Einfach zu stehen und die Stimme freizulassen, das ist viel einfacher. Aber da habe ich als Zuschauer weniger Emotionen. Das habe ich schon als Kind gemerkt: Ich brauche einen Schauspieler und einen Sänger zusammen auf der Bühne. Und deswegen habe ich mit 18 gedacht, die Stimme würde sich noch ändern, und ich hätte einige Jahre Zeit, um mehr Schauspiel als Gesang zu studieren. Das hat nicht geklappt, ich habe versucht, in einige Schulen hineinzukommen, doch das war nicht meins. Und dann klappte es mit der Hochschule für Gesang.

Also letztlich: Hauptsache, Bühne.

Elsa Dreisig: Genau, sowieso.

Wie lang halten Sie es dann ohne Applaus aus?

Elsa Dreisig: Jetzt mit Corona habe ich erlebt, dass es geht, aber: die Atmosphäre, in den Kulissen, auf der Bühne, in meiner Garderobe. Wenn ich um sieben Uhr Vorstellung habe, komme ich schon um drei Uhr, weil ich es so sehr mag, dort zu sein. Ich hatte auch nie Angst auf der Bühne.

Also kein Lampenfieber…

Elsa Dreisig: Nein, ich habe eher zu Hause Angst, bevor ich gehe. Doch ab dem Moment, in dem ich im Theater bin und genügend Zeit zum Aufwärmen meiner Stimme habe, beruhige ich mich. Wenn ich vorher einmal gemerkt habe, okay, es könnte schiefgehen, war es schrecklich. Aber das ist Gott sei Dank sehr selten so.

Wenn Sie auf der Bühne stehen, sehen Sie nur diese schwarze Wand und kein Publikum. Sie singen gegen diese Wand und hoffen, dass am Ende Applaus von dort zurückkommt. Ist dieser Anblick toll oder fürchterlich für Sie?

Elsa Dreisig: Darüber denke ich überhaupt nicht nach. Ich bin so in meiner Rolle und der Musik, ich spüre nur eine gewisse Energie. Und manche Auftritte können schwer sein, wenn ich nicht so viel Energie spüre.

Das hab‘ ich natürlich nicht ohne Grund gefragt, denn: Salzburger Festspiele, vergangener Sommer, Mozarts „Così“, Sie als Fiordiligi. Alle im Publikum waren derart froh, dass es live Musik gab, dass alles geklappt hat. Von Anfang an: unglaubliche Seligkeit. War das für Sie auf der Bühne auch so? Von meinem Platz aus wirkte es, als ob der gesamte Cast durchgängig vor Freude hätte weinen können.

Elsa Dreisig: Das haben wir von Anfang an gespürt. Es war so elektrisch! Diese Premiere ist vielleicht die beste Erinnerung meines Lebens, wegen dieser Konstellation. Wir waren so befreundet, waren so froh zu singen und zu spielen. Die Inszenierung habe ich so gemocht. Alles war perfekt, das ist sehr selten. Und das Publikum hat uns so viel Freude und Liebe gegeben.

Elsa Dreisig (Mitte) in der Salzburger „Così fan tutte“.
Elsa Dreisig (Mitte) in der Salzburger „Così fan tutte“. © picture alliance / BARBARA GINDL / APA / picturedesk.com | Barbara Gindl

Mit so einer Vorstellung im Rücken schläft man wahrscheinlich zwei Tage nicht?

Elsa Dreisig: Es war so viel Aufregung und Stress, die Partie ist schon sehr schwer. Erst nach der Premiere habe ich es gemerkt, ich war so müde und hatte riesige Nackenprobleme, weil ich so viel Spannung in mir hatte. Bis zur vierten Vorstellung war ich wirklich kaputt.

Fußballprofis steigen dann in die Eistonne, wie regenerieren Sie?

Elsa Dreisig: Zeit zu Hause hilft; zu wissen, dass ich nichts zu tun habe, keine Treffen, keine Interviews, in der Natur spazieren gehen.

Wenn Sie eine Partie zur Seite gelegt haben, wie gut sind Sie mit dem Wiedereinstieg, sobald diese Rolle erneut ansteht? Ist alles flott wieder da?

Elsa Dreisig: Ich vergesse sehr schnell, aber ich erinnere mich auch sehr schnell. Die Manon hatte ich vor zwei Jahren gesungen und dann die Partitur nicht mehr geöffnet. Die Proben in Hamburg haben im Dezember angefangen und im November dachte ich, okay, jetzt muss ich die Noten wieder anschauen. Melodisch konnte ich alles erinnern, vom Text hatte ich einiges vergessen. Dann habe ich mir einmal eine Aufnahme angehört und konnte die ganze Partie wieder.

Bo Skovhus meinte einmal, es sei ganz schrecklich, wenn einem Sopranistinnen brutal laut ins Ohr singen.

Elsa Dreisig: Ich denke, das kann sehr schlimm sein. Immer wenn ich singe, schützt mein Freund seine Ohren (lacht). Er findet das schön, aber es ist viel zu laut für ihn.

Und was machen Sie gegen laute Tenöre?

Elsa Dreisig: Ich habe gelernt, dass man gleichmäßig einen Ton mitsingen muss, ganz leise, das hilft. Mein Freund hat eine Maschine, mit der man sieht, wie laut etwas ist. Wir haben einmal in unserem Wohnzimmer gemessen, und meine Stimme war so laut wie ein startendes Flugzeug, 110 oder 111 Dezibel.

Haben Sie Aberglauben-Routinen vor Vorstellungen? Immer mit dem linken Fuß zuerst aus der Garderobe?

Elsa Dreisig: Die einzige Regel ist: Den Nachmittag brauche ich allein.

Beim Wort „Sopran“ kommt bei vielen das klassische Etikett „Diva“ hinterher. Können Sie mit diesem Begriff überhaupt noch etwas anfangen?

Elsa Dreisig: „Diva“ ist ein bisschen altmodisch. Es ist lustig, ein Wort mit einer großen Geschichte. Aber ich würde nie denken, ich muss eine Diva sein, weil man mich sonst nicht respektieren würde. Und ich muss keine Diva sein, denn sonst bin ich wie eine altmodische Sängerin. Manchmal mache ich an meine Garderobentür ein „Do not disturb“-Schild, sonst kommen viele, um einfach Hallo zu sagen, schöne Sachen zu sagen. Nach einer Vorstellung: kein Problem. Aber vorher nicht. Das könnte ein bisschen nach Diva klingen. Doch ich denke so nicht, nur: Wie kann ich am besten auf der Bühne stehen, singen und spielen?

Wie schwer ist es, immer wieder dem Druck in Ihrer Branche ausgesetzt zu sein, wenn überall die nächste Sopranistin auftauchen könnte, die sagt: Alles, was du kannst, kann ich viel besser.

Elsa Dreisig: Noch bin ich in dieser Position der nächsten Sopranistin. Aber in fünf oder zehn Jahren wird es vielleicht anders sein. Momentan bin ich in fast allen Produktionen die Jüngste oder im jüngeren Team. Diesen Druck spüre ich noch nicht, aber ich spüre, dass ich noch so viel lernen und arbeiten muss. So viel von dem, was ich von mir selbst erwarte, habe ich noch nicht erreicht, das ist etwas ganz anderes als die Karriere. Ich möchte mich einmal hören und denken: Das ist genau, was für mich Oper ist. Genau so, wie ich singen möchte. Und das ist noch nicht passiert. Ich bekomme schon so viel Druck von mir selbst, den Druck von Jüngeren habe ich noch nicht. Ich weiß auch, dass meine Erwartungen andere sind als das, was das Publikum mag oder hört. Ich habe gelernt, davor Respekt zu haben. Wenn sie sagen, das war toll, dann sage ich: danke. Auch wenn ich denke, ich hätte es besser machen können, habe ich trotzdem etwas gegeben.

Sie singen Oper und Liederabende. Viele glauben womöglich, Oper sei: großes Orchester, viel Personal, man singt oder wartet. Aber ein Liederabend ist etwas ganz anderes. Warum ist dieses Format viel schwieriger, obwohl man ja glauben könnte: Da ist nur ein Klavier, man ist allein und muss auf niemand sonst achten.

Elsa Dreisig: Aber das Problem ist: Wir sind nackt. Wir sind allein und es hilft nicht besonders, mit einem Klavier allein auf der Bühne zu sein. Man hört so viel mehr, man hat kein Kostüm. Man ist nur man selbst, und es ist schwer zu wissen: Welche Elsa will ich heute zeigen? Welche Manon ich in der Oper sein will, habe ich vor zwei Monaten präzise durchdacht. Aber: ich selbst? Kann sein, dass es ein Tag ist, an dem ich mich in meinem Körper so schlecht fühle und mich nicht mag. Bei Liederabenden gibt es keine Möglichkeit des Entkommens. Man ist einfach da. Das ist schwer.

Können Sie gönnen, wenn Sie andere Sängerinnen hören, oder kommt der Gedanke: Verdammt, wieso kann ich nicht so gut sein?

Elsa Dreisig: Ich habe mich früher überhaupt nicht verglichen und weiß auch nicht, warum ich als Studentin diese Kraft in mir hatte und dachte: Ich bin einzigartig, ich muss nur am besten sein, und es könnte Tausende andere super Sopranistinnen geben, egal, es gibt Platz für alle. Jetzt ist es etwas anders: Heute gibt es eine Karriere, man könnte meinen, dass ich viel mehr an mich glaube. Es ist andersherum. Jetzt höre ich viel mehr von meinen Kollegen und vergleiche mich. Das ist sehr schlecht, das sollte ich nicht machen, das bringt nichts, denn es heißt nur: Ich bin traurig und kann nicht mehr singen.

Ein schönes Zitat von Ihnen: Ich will von der Oper nicht unterhalten werden, ich will von ihr verändert werden.

Elsa Dreisig: Ja, ich habe keine Lust darauf, nur Glitter zu haben. Oft gehe ich in der Pause aus Vorstellungen, weil es nur Oberfläche ist. Ich vermisse den Kern. Ein hoher Ton am Ende einer Arie? Das ist mir völlig wurscht, das ist nur eine schöne Sache. Das reicht nicht. Wenn ich in die Oper gehe, muss sich spüren: Was ich heute erlebt habe, wird in meinem Leben bleiben, ich habe von einem Gefühl etwas mehr verstanden, ich muss nach Hause gehen und darüber nachdenken. Nach einer guten Vorstellung komme ich nach Hause und habe Lust zu singen und die Partitur einzustudieren.

Wenn die Sopranistinnen-Fee käme und Sie hätten einen Wunsch frei, was wäre es?

Elsa Dreisig: Meine Stimme nie kaputtzumachen.

Easy said, but schwer getan.

Elsa Dreisig: (lacht) Aber ich hoffe, dass es mit Intelligenz, Instinkt und Nähe zu sich selbst nie passieren wird.

In einem deutschen Lied gibt es die Zeile „Ein Auto, das nicht fährt, ist nur die Hälfte wert“. Bei Künstlern ist es seit Monaten so: Man lässt sie nicht fahren. Was macht diese ganz hohe Gewalt mit dem Selbstwertgefühl, ist Ihr Glas halb voll oder halb leer?

Elsa Dreisig: Ich würde eher halb leer sagen. Es war extrem schwer. Ich wusste nicht mehr, wer ich bin, ich habe gedacht, man hat mir meine Identität genommen, ich habe mich leer gefühlt. Ich schreibe viel, über Rollen und alles Mögliche, einen ganzen Nachmittag habe ich nur geschrieben und mich gefragt: Wofür bin ich da, wenn es nichts zu singen gibt? Mit 18 bin ich nach Paris gegangen und es war bis zum März nur ein Tunnel: nur Gesang, Gesang, Oper, Karriere... Ich war nie einen Monat lang zu Hause. Aber ich habe auch viel gefunden: Ich habe den Vögeln zugehört, habe meine Kamera genommen und bin in die Natur gegangen. Das hatte ich nie vorher gemacht. Und jetzt gehen mein Freund und ich durch Hamburg, und wir wissen genau, welcher Vogel das ist. Vor einem Jahr konnten wir das noch nicht. Das ist schon jetzt ein riesiges Geschenk.

Wie geht für Sie der Satz weiter: „In zehn Jahren bin ich…“?

Elsa Dreisig: … die beste Sopranistin der Welt (lacht schallend).

„Manon“ live aus der Staatsoper, So 24.1., 18.00 online (Video) auf ndr.de und im Radio auf NDR Kultur. Video-Stream ab Mi 27.1., 18.00 auf dem YouTube-Kanal der Staatsoper Hamburg für 48 Stunden kostenfrei.

CDs von Elsa Dreisig: „Morgen“ Lieder von Strauss, Duparc und Rachmaninow (Erato, ca. 14 Euro). „Miroir(s)“ Arien von Massenet, Puccini, Rossini, Mozart, Strauss u.a. (Erato, ca. 7 Euro). Beethoven „Christus am Ölberge“ LSO, Sir Simon Rattle (LSO Live, ca. 13 Euro)