Hamburg. Pierre-Laurent Aimard ist ein Pianist, dem man so ziemlich alles zutraut. Im Podcast spricht er über sein Leben als Ausnahmemusiker.

„Ich liebe Qualität“. Und weil dieses Wort auch mit Quälen zu tun hat, ist Pierre-Laurent Aimard seit Jahrzehnten einer jener sehr wenigen Pianisten, denen man so ziemlich alles zutraut – oder wohl eher: zumutet. Er hat unter anderem mit Pierre Boulez, György Ligeti oder Karlheinz Stockhausen Erfahrungen gesammelt und fürs Leben gelernt.

Wie Aimard alle 18 Ligeti-Etüden in der Elbphilharmonie bewältigte, die zum Schwersten überhaupt zählen, war oberhalb von Sensation und auch wegen der enormen körperlichen Anstrengung ein Kraftakt. Aimard gilt als der Mann für die ganz großen Aufgaben, die Bandbreite reicht vom Barock bis ins musikalische Jetzt, aber noch lieber, bis weit ins Morgen.

Hamburger Abendblatt: Sie gelten als Spezialist für zeitgenössische Musik, aber nicht nur…

Pierre-Laurent Aimard: … es tut mir leid, ich bin nicht spezialisiert auf Neue Musik, ich bin spezialisiert auf Musik…

… um so besser. Und das Stück, das Sie nicht spielen können, muss wahrscheinlich erst noch komponiert werden. Fangen wir an: Haben Sie schon einmal vor einem Stück kapituliert?

Pierre-Laurent Aimard: Ja, sehr oft. Ich habe gewartet, bis ich 50 war, um Johann Sebastian Bach öffentlich zu spielen. Auch mit Beethovens „Hammerklaviersonate“ habe ich ungefähr bis zu diesem Alter gewartet.

Wie frustrierend ist das, wenn man merkt: Es ist nicht zu schwierig, aber es ist zu schwer?

Pierre-Laurent Aimard: Es hat nichts mit dem Pianismus zu tun, sondern mit dem künstlerischen Anspruch, und das ist gar nicht frustrierend. Was sind wir vor so einem Stück? Ja, man versucht, auf den Berg zu steigen, und wenn nicht, dann: nächstes Mal.

Dann steigen Sie wieder herunter und sagen sich: Dich krieg‘ ich noch?

Pierre-Laurent Aimard: Hoffentlich. Und wenn nicht, nicht.

In Ihrem Lebenslauf stand, kaum zu glauben, dass sie schon mit sieben die Sechs Kleinen Klavierstücke op. 19 von Schönberg gespielt haben und mit neun in Musik von Pierre Boulez verknallt waren. Andere finden in dem Alter Mozart-Sonaten toll…

Pierre-Laurent Aimard: Ja, warum? Weil sie so ausgebildet wurden. Ich wurde anders ausgebildet, zum Glück, mit einer größeren Repertoire-Bandbreite. Es ist nur eine Frage der Ausbildung. Man kann glauben, dass es nur die tonale Musik gibt – oder man kann glauben, dass die Welt mit mehr Vielfalt gemacht wurde.

Dann läuft etwas falsch bei der gängigen Ausbildung?

Pierre-Laurent Aimard: Für mich wäre eine künstlerische Ausbildung auf keinen Fall etwas, das mit begrenztem Formalismus zu tun hat. Sie muss immer mit Kreativität, Neugier, Entdeckung verbunden sein.

Die gängigen Eltern würden eher sagen: Der Junge muss Mozart lernen und Schubert, Schweres kommt später. Jetzt soll er erstmal schön spielen.

Pierre-Laurent Aimard: Ich hatte das Glück, zwei sehr intelligente Eltern zu haben, Ärzte, mit vielen kulturellen Interessen, die gedacht haben: Oh, der Junge beschäftigt sich mit Sphären, die wir nicht kennen. Ihn sollten wir ermutigen, dann entdecken wir selbst neue Sphären. Das versuche ich auch mit meinen Kindern.

Und schon mit zwölf Jahren wurden Sie in Paris Schüler der Pianistin Yvonne Loriod, der Frau des Komponisten Olivier Messiaen. Sie waren also ein Wunderkind?

Pierre-Laurent Aimard: Ich war - wie viele mit Talent - konfrontiert mit Studien, die man normalerweise erst später macht. Besonders war vielleicht die Tatsache, ziemlich früh mit Messiaen zu arbeiten. Aber ein Wunderkind wollte ich nie sein, diese Art von Hysterie wollte ich immer vermeiden.

Messiaen hatte eine große Leidenschaft für den Gesang von Vögeln, er hat viele Stücke geschrieben, die davon inspiriert waren. Sind Sie mit ihm in den Wald, zur Stimmensuche, mussten Sie da für ihn Protokoll führen?

Pierre-Laurent Aimard: Eindrucksvoll war nicht nur seine Liebe für Vogelgesänge und generell für die Musik der Natur, sondern seine Kenntnis. Er konnte über jeden Vogelgesang in seinen Stücken alles erzählen und ihn auch sehr gut imitieren. Auf keinen Fall aber durfte ich mit zur Beobachtung in den Wald. Das war etwas, das er allein, mit Ornithologie-Experten oder seiner Frau tat.

Danach waren Sie viele Jahre Pianist im Ensemble intercontemporain.

Pierre-Laurent Aimard: Mich hat, als ich jung war, irritiert, dass ich wie ein Solist ausgebildet wurde. Ich habe meine Ausbildung so organisiert, dass ich mehrere Jobs als Pianist übernehmen könnte, weil ich ein reiches Leben als Musiker haben wollte, möglicherweise als Solist, aber auch als Liedbegleiter, Kammermusiker, Teil eines Ensembles für Neue Musik, Lehrer… Diese Vielfalt hat mich immer interessiert. Und als diese Gelegenheit kam, in einem von Boulez gegründeten Ensemble, war das eine einmalige Chance. Endlose fantastische Erlebnisse: Boulez probt einige Takte seiner Musik, die ersten Klänge eines neuen Stücks von Elliott Carter, Stockhausen, der als künstlerische Präsenz so strahlte…

Alles Komponisten, die nicht direkt kleine Egos hatten, später kam noch Ligeti dazu… Macht einen das bescheiden oder ist das die reine Freude?

Pierre-Laurent Aimard: Es ist genau wie im täglichen Leben: Jeder kann eine gewisse Arroganz besitzen oder nicht, ob Sie also von jemandem eine neue Komposition bekommen sollen oder einen Stempel in einer Verwaltung, macht keinen Unterschied. Diese Komponisten, große Schöpfer, sind Menschen, keine Götter.

Es folgte auch eine enge, lange Zusammenarbeit mit György Ligeti, der einen epochalen Etüden-Zyklus verfasste. Hat er Sie eingebunden, à la „Ich möchte Klavier-Etüden schreiben, was hättest Du gern?“ Oder gab es keinen Austausch und was fertig war, war fertig?

Pierre-Laurent Aimard: Wenn ein Schöpfer kräftig ist in seiner Vision, ist er der Schöpfer. Der Interpret ist nicht das alter ego. Aber er ist wichtig, weil von ihm die klangliche und zeitliche Realisation des Stücks kommt. Ein Interpret bringt seine Klangwelt, seine Sensibilität, seine Technik, seine Kultur. Aber das bleibt eine definierte und ziemlich bescheidene Rolle. Zum Beispiel die Titel: Da hat er oft mehrere Leute gefragt, aber am Ende hat er selbstverständlich entschieden. Für die Etüde 14 „Coloana infinita“, technisch sehr anspruchsvoll, hat mir eine erste Fassung geschickt und gefragt, ob das unspielbar sei. Ich habe geantwortet: Das ist wirklich extrem und es würde Sinn machen, eine leichtere Version zu schreiben, damit es mehr Pianisten schaffen können.

Bei einem Stück, das eigentlich nur noch von selbstspielenden Klavieren zu bewältigen ist, hat er notiert: „Bei entsprechendem Arbeitsaufwand ist auch die Aufführung durch einen lebendigen Pianisten möglich.“

Pierre-Laurent Aimard: Im Ende sind die Stücke spielbar, sie sind in dem Moment, in dem sie geschrieben werden, nur eine besondere Herausforderung. Dann kommen Generationen von Pianisten, die Fortschritte machen. Das hohe C am Anfang von Strawinskys „Sacre“, das kaum spielbar war, ist für Fagottisten ganz normal geworden. Ich habe Studenten, die eine Etüde wie eben Ligetis „Vertige“ auf perfekte Art und Weise spielen, wie ich sie mir nicht vorgestellt hätte.

In der Elbphilharmonie habe ich Sie mit allen 18 Ligeti-Etüden an einem Abend gehört, was ein unglaubliches Erlebnis war, schon wegen der Kraftanstrengung. Wie lang braucht es für Sie, um nach so einem Konzert wieder gerade zu stehen und klar zu sein?

Pierre-Laurent Aimard: Stilistisch sind die Stücke schon komplex, einige sind sehr einseitig, sehr klar. Nach so einem Zyklus fühle ich mich tot. Und das hat nicht nur mit der Herausforderung zu tun. Bachs „Wohltemperiertes Klavier“ oder die „Kunst der Fuge“ ist auch eine Herausforderung, aber Bach ernährt sie immer. Ligeti bringt sie bis zur Grenze und fragt Sie, noch ein paar Schritte weiter zu gehen. So war er, und so sind wir eingeladen, unsere eigenen Grenzen permanent zu überschreiten. Und selbstverständlich lässt Sie das nicht in voller Ruhe (lacht).

Auf die Frage „Können Dirigenten und Orchester Freunde sein?“ kommen die lustigsten Antworten. Wie ist es mit Komponisten und ihren Interpreten? Ist das ein Arbeitsverhältnis?

Pierre-Laurent Aimard: Die Freundschaft ist nicht das Ziel. Das Ziel ist anders. Die Freundschaft sollte nicht den künstlerischen Anspruch erleichtern. Wenn es Freundschaft gibt, muss sie sich unbedingt dem gemeinsamen Ziel unterordnen.

Ligeti hat sie einmal „der beste Pianist“ genannt, ein riesiges Kompliment. Gibt es so etwas überhaupt?

Pierre-Laurent Aimard: Das ist alles falsch – er hat gesagt „für zeitgenössische Musik“, und das kann ein Komponist nicht behaupten. Ein Komponist ist vielleicht für sich selbst die Welt, aber für die Welt ist er nur ein Teil des Schöpfens. Und Kunst ist nicht Sport. Es ist keine Frage des Wettkampfs, sondern der Aneinanderbereicherung.

War es möglich, mit jemandem wie Boulez, Ligeti oder Stockhausen auch über ganz anderes zu reden – Fußball, Politik, der letzte Bond-Film? Oder waren die spätestens nach drei Minuten wieder dabei, wie toll ihr nächstes Stück wird?

Pierre-Laurent Aimard: Sehr starke Schöpfer zählen zu den interessantesten Menschen auf dem Planeten. Ihr Geist, ihre Fantasie, ihre Kultur, ihr besonderes Verhältnis war so inspirierend, dass man sie für Stunden und Stunden sprechen hören konnte. Ein Mensch wie Boulez oder Ligeti… Man konnte nie satt werden von dem, was sie erzählt haben und was sie uns entdecken ließen.

Bei Begegnungen mit Boulez, Stockhausen und Ligeti habe ich nicht immer alles verstanden, glaube ich, machte aber nichts, war trotzdem toll. Ging es Ihnen auch so?

Pierre-Laurent Aimard: Wenn jemand in seinem Suchen und Denken sehr weit ist, ja, da fühlt man sich sehr oft nicht auf diesem Niveau und hat noch viel zu lernen. Es ist wie mit einem Leuchtturm, man versucht, immer weiter zu gehen und kann sich bedanken für das Privileg, Menschen zu haben, die uns immer vorwärts bringen.

Warum glauben wohl so viel, dass eine Mozart-Sonate ganz einfach zu verstehen sei – aber ein Stück von Schönberg, auch schon 100 Jahre alt, sei eine brutale Gemeinheit, viel schwieriger?

Pierre-Laurent Aimard: Wenn ein Deutscher Chinesisch hört, findet er, dass Deutsch leicht zu verstehen ist, und umgekehrt. Das ist meine Antwort. Punkt.

Gibt es Musik, die Ihnen buchstäblich zu blöd ist, oder, freundlicher ausgedrückt: nicht intelligent genug?

Pierre-Laurent Aimard: Tausende, Millionen von Tönen, selbstverständlich! Aber wann nennen Sie Musik? Wenn man Musik nennt, die einfach einige Klänge nacheinander präsentiert, warum würde das von vornherein interessant sein? Warum soll der Mensch mit Unsinn leben, mit Banalität, mit niedriger Qualität? Es gibt so viel Furchtbares zu essen. Und um Gutes zu essen, gesund, was Ihnen einen Genuss gibt – dafür müssen Sie sorgen und dafür arbeiten. Auch für Musik.

Sich sinnvoll mit Älterer Musik zu beschäftigen, ist doch eigentlich nur möglich, wenn man auch Neue Musik kennt und spielt, weil einem ansonsten die Gesamtperspektive fehlt?

Pierre-Laurent Aimard: Ich glaube, wir sollten von lebendiger und sinnvoller Musik sprechen, die kann von gestern und heute sein. Wenn man etwas wirklich Lebendiges wählen wollen, mit dem nötigen Risiko und dem Denken an die Zukunft, dann benötigen wir zeitgenössische Musik. Aber man benötigt auch ein Erbe, vor allem in einer Epoche wie unserer, die sich so schnell ändert. Ich sage immer: Ich benötigte meine Eltern und meine Kinder. Ich will keine exklusive Wahl machen, warum? Wir brauchen den Kontakt mit verschiedenen Generationen.

Wird man durch Musik ein besserer Mensch oder ein anderer?

Pierre-Laurent Aimard: Alles (lacht). Wir können, wie mit jeder Kunst, so viel Unglaubliches mit Musik erleben. Das ist schon nicht so schlecht.

Gehen Sie zur Inspiration in Museen und Kinos, lesen Sie wie ein Wilder, oder genügen Ihnen ein Klavier und acht Kilo Noten?

Pierre-Laurent Aimard: Ich gehe nicht zur Inspiration, sie kommt oder nicht. Aber ich lebe, wie ich lebe. Und ein Leben ohne Lesen, ohne Museum, ohne Wandel, ohne Menschen, ohne Reisen, ohne Licht oder Natur wäre mir unzumutbar. Deswegen lebe ich so. Vielleicht bin ich ein bisschen bulimisch mit dem Leben - aber mit der Arbeit auch (lacht).

Wenn Sie irgendwo ein Konzert spielen sollen, sind Sie der Schreck aller Klaviertechniker, weil Ihr Repertoire so sehr das Instrument strapaziert?

Pierre-Laurent Aimard: Also… Sich zu wünschen, ein wohlreguliertes Klavier zu haben, heißt, dass das Instrument besser arbeiten wird. Weniger Blockage, besserer Zustand. Viele Menschen fühlen sich besser mit weniger Arbeit, weniger Anspruch, ein ruhiges Leben. Ich habe mir nie ein ruhiges Leben gewünscht. Für mich benötigen hohe Ansprüche ein hohes Engagement. Mich faul mit faulen Leuten zu bewegen, war für mich nie ein Wunsch.

Sie sind also einer dieser gemeinen Perfektionisten, die mindestens 130 Prozent wollen.

Pierre-Laurent Aimard: Ich liebe Qualität.

Wie sind Sie durch die letzten Wochen und Monate gekommen?

Pierre-Laurent Aimard: Ich hatte die Chance, viel nachzudenken. Klar, es war ein Privileg. Es war aber auch tief verstörend und es waren einige der schwierigsten Stunden in meinem Leben. Was mich sehr irritiert hat: Wie sehr man diese Situation oberflächlich benützt hat, vor allem in den sozialen Medien, um eine Art von megalomanischer Präsenz zu haben. Sehr oft mit wenig Sinn, aber viel Ego. Tief berührt hat mich, wie sehr Leute mit authentischem Inhalt und manchmal künstlerische Vision sich ausgedrückt und kommuniziert haben.

Dann eine grundsätzliche Frage: Wie ist das Leben als Musiker? Vielleicht gibt es eine ganz einfache Antwort.

Pierre-Laurent Aimard: Ich kann nur für mich antworten. Ehrlich gesagt: Ich finde das Leben insgesamt faszinierend und… ziemlich dramatisch, wenn wir die Welt beobachten. Sich mit einer Disziplin wie Musik zu beschäftigen, die uns in andere Sphären bringt, gibt uns die Chance, in tiefem Kontakt mit einer Vision zu kommen, die uns in eine mögliche ideale Welt zu reisen. Das ist ein unvergleichliches Privileg und macht das Leben inspiriert und begeisterungsvoll.

Ò la la… Dann zum Abschluss eine einfache letzte Frage: Von wem hätten Sie gern ein Stück auf Ihre Finger komponiert bekommen und warum?

Pierre-Laurent Aimard: Ich freue mich, dass ich mich von so endlos vielen göttlichen Stücken berühren lassen kann. Das ist unsere Chance. Noch ein Stück zu bekommen, ja, das ist ein wahnsinniges Privileg. Aber das ist nicht unser Stück. Ab seiner letzten Sekunde ist es ein Stück fürs Universum. Für alle. Es macht keinen Unterschied. Es ist nur eine Anekdote. Was wirkt ist, dass das Stück existiert, uns berühren und bereichern kann.

Konzerte: 7. September, 18.30 / 21 Uhr, Elbphilharmonie, Großer Saal. Mahler Chamber Orchestra, George Benjamin (Dirigent): Werke von Janacek, Benjamin und Ravel. 24. November, 19.30 Uhr, Elbphilharmonie Kleiner Saal: NDR das neue werk, Kammermusik von Lachenmann und Beethoven.