Hamburg. Der Hamburger Staatsopern-Intendant Georges Delnon spricht über die Kultur in Zeiten von Corona, Spiel- und andere Pläne.

„Man muss das Publikum verführen, dieser neuen Situation zu folgen und ein Vertrauen schaffen, dass es sich bei uns wohl und sicher fühlt und uns auch mit Neugierde begegnet.“ Die erste Hälfte ist rum. Seit fünf Jahren ist Georges Delnon mittlerweile Staatsopern-Intendant in Hamburg, seinen Vertrag hat er bereits vor knapp drei Jahren bis 2025 verlängert. Doch auch wenn es für einen Schweizer klischeebedingt nahe läge, an ein Bergfest zu denken – spätestens seit Mitte März gibt es für einen Opern-Intendanten wegen Corona keine Gründe zum Feiern mehr. Machen, was geht, ist jetzt das Krisen-Motto.

Hamburger Abendblatt: Wie haben Sie die letzten Wochen verbracht?

Georges Delnon: Unruhig, aber doch die freien Tage genießend. Ich war viel unterwegs, aber immer vorsichtig.

Haben Sie das C-Wort dabei aus dem Hinterkopf verbannt?

Delnon: Man kann es nicht wegbekommen. Corona ist ja Teil unserer Realität, unseres Alltags. Es schärft den Blick auf andere, neue Dinge.

Bei den Salzburger Festspielen, die trotzdem vor halbvollen Häusern spielten, ist in diesem August so ziemlich alles neu. Wie ist Ihre Meinung dazu, wird Ihnen beim Gedanken an 1000 Menschen in einem geschlossenen Raum ganz anders?

Delnon: Nein, wie die Maßnahmen ergriffen wurden, finde ich sehr vernünftig. Es ist jetzt auch eine Zeit, in der wieder etwas geht. Die Frage nach der Solidarität ist eine sehr große. Vor dem Urlaub war ich überrascht, wie viele Kollegen behauptet haben: Wir ziehen durch, was wir geplant haben, wir trotzen Corona. Eine Haltung, die absolut nicht meine ist. Wir sollten uns fragen: Was können wir anders machen? Ich möchte eigentlich gar nicht ins Theater gehen und Dinge sehen wie vorher. Also habe ich über neue Programm-Möglichkeiten nachgedacht, dass man zum Beispiel, wie in unserem Saisonstart „molto agitato“, von Ligeti zu Brahms, Händel und dann zu Weill kommt, in einer theatralischen Sinnfälligkeit. Da muss ich nicht in die Situation kommen, etwas Bestehendes zu ändern oder zu kürzen.

Mal ganz schlicht dazwischengefragt: Sie sagten, alle wollen, Sie wollen auch. Warum haben Sie dann in der Oper nichts gemacht in den letzten Wochen? An vielen Häusern gab es den Umständen entsprechende Angebote. Behördenauflagen, Sommerpause, Ferien, schon klar. Aber: Wenn Kulturauftrag, dann doch jetzt. Oder liege ich da verkehrt?

Delnon: Nein, Sie sind nicht verkehrt. Wir machen ja jetzt. Wir hatten relativ früh ein Gespräch, auch mit der Kulturbehörde, dass wir mit Proben loslegen wollen, um nach der Sommerpause zu eröffnen. Das war der Plan, der ist hier so durchgezogen worden. Dass andere Bundesländer anders damit umgegangen sind, wissen wir. Ich denke nicht, dass wir inaktiver als andere waren, wir haben sehr viel digital gemacht…

Das sind Georges Delnons Lieblingsstücke:

  • Maurice Ravel: Streichquartett F-Dur, Emerson String Quartet
  • Johannes Brahms: Von ewiger Liebe Opus 43 Nr 1, Dietrich Fischer-Dieskau
  • Richard Heuberger: „Im chambre séparée“ aus „Der Opernball“, Elisabeth Schwarzkopf, Otto Ackermann (Dir.)
  • Scarlatti-Sonaten mit Arturo Benedetti Michelangeli
  • Wolfgang Amadeus Mozart: Arie der Konstanze „Martern aller Arten“ aus der „Entführung aus dem Serail“, Édita Gruberova, Orchester der Bayerischen Staatsoper, Karl Böhm
  • Richard Strauss: „Marie-Therese hab’ mir‘s gelobt“ aus „Rosenkavalier“ Gundula Janowitz, Brigitte Fassbaender , Ileana Cotrubas, George Prêtre (Dir.) / RTI
  • Richard Strauss: „Großmächtige Prinzessin“ aus „Ariadne auf Naxos“ Édita Gruberova, Orchester der Wiener Staatsoper, Karl Böhm

… Digital ist immer auch sehr Notwehr…

Delnon: … Darauf muss man jetzt anders schauen. Wir machen ein Projekt mit Schönbergs „Pierrot lunaire“, natürlich dachte ich da sofort an die Verfilmungen. Und ich kann mir vorstellen, dass Digitales innerhalb der Inszenierungen in den nächsten Monaten eine größere Rolle einnehmen wird. Es wird beim „Pierrot“ viel mehr als das übliche Video sein, dass wir ansonsten in jeder Produktion haben.

Das Opernhaus in Zürich hat sein Orchester ausgelagert und für Vorstellungen den Ton zugespielt. Auch eine Lösung oder doch nur Krücke?

Delnon: Wir hatten die Idee auch, weil wir unsere „Elektra“ (das Orchester ist dort riesig besetzt, d. Red.) mehr oder weniger fertig hatten. Mit den Terminen hätte es nicht ganz geklappt, aber das wäre für uns denkbar gewesen. Wir haben hier darüber gesprochen. Aber, wie es auch der Salzburger Intendant Markus Hinterhäuser im Gespräch mit Ihnen erwähnt hatte: Wo ist die Aura? Der Dirigent möchte vor den Sängern stehen, er möchte sie direkt anschauen. Ich sage nicht, dass es nicht geht. Aber mir fehlt da etwas.

Viele Sängerinnen und Sänger sind seit Monaten auf der Zinne, weil sie sich von Opernhäusern, vorsichtig ausgedrückt: nicht optimal behandelt fühlen, was die Abwicklung der Ausfallhonorare angeht. Was haben Sie vor, um die wieder zu befrieden?

Delnon: Wir haben uns sehr früh auf eine konstruktive Form festgelegt. Wir waren unter den ersten, die sich positioniert haben. Abmachungen wie 30 Prozent der Gage, aber maximal 1500 Euro anbieten, das haben wir zu einem Zeitpunkt gemacht, zu dem andere Häuser noch gar nichts bezahlt haben. Wir sind jetzt für den Herbst mit allen im Gespräch, um konstruktive Lösungen zu finden, damit möglichst alle mit Gastvertrag bei uns sich nicht allein gelassen fühlen.

Falls jeder Nachteil auch einen Vorteil hat: Wird diese Zeit dafür sorgen, dass Nachwuchskräfte die Chance haben, Rollen zu singen, die sie sonst noch nicht bekommen hätten, weil man sich die großen Namen gerade nicht mehr leisten kann, wenn Einnahmen nun so sind, wie sie sind?

Delnon: Meine These: Es ist sicher eine Chance für den Blick auf das Lokalere. Klar auch, dass der Ensemble-Sänger mit Gehalt im Vorteil war. Die Karten werden durch die Pandemie neu gemischt, die Zeit verlangt nach neuen Entscheidungen. Dazu gehört auch der größere Blick nach innen, zu den Ressourcen, die schon da sind. In der Planung spüre ich etwas auch eine Befreiung, weg von dem ständigen Wahnsinns-Wettbewerbsdruck: Wer kriegt den, wer krieg die? Hab‘ ich sie für vier Abende oder für drei? Das ist vielleicht auch ganz gut. Man muss vielleicht auch noch mehr entdecken.

Bislang lieferten Sie auch, was die Leute hören wollten – jetzt aber womöglich mehr von dem, was das Publikum ihrer Meinung nach hören sollte?

Delnon: Man muss das Publikum verführen, dieser neuen Situation zu folgen und ein Vertrauen schaffen, dass es sich bei uns wohl und sicher fühlt und uns auch mit Neugierde begegnet. Wir wollen die Qualität hochhalten. Noch mal zum „Pierrot“, bei dem Anja Silja dabei ist, aber auch Marie-Dominique Ryckmanns. Die eine muss ich nicht vorstellen, die andere ist eine junge, hochbegabte Sängerin aus dem Münchner Opernstudio.

Nun kann es sein, dass nicht jeder Abonnent sofort „Jippieh!“ ruft, wenn er den Namen Schönberg auf dem Programm liest. Andere Überzeugungsarbeit als sonst also.

Delnon: Ja, das glaube ich auch. Aber sie werden einen besonderen Abend erleben, den sie spannend finden.

Mehr Stadt- als Staatstheater? Lokaler heißt ja nicht zwangsläufiger kleiner oder automatisch schlechter. Aber Sie schalten einen Gang herunter, um neue Türen zu öffnen?

Delnon: An „Stadt-“ oder „Staatstheater“ möchte ich mich nicht aufhalten. Ich führe die Politik weiter, die ich seit fünf Jahren mache, zurzeit unter neuen Bedingungen. Mit dem Anspruch höchstmöglicher Qualität und dem Anspruch, Menschen neugierig zu machen, mit Menschen zu arbeiten, die gerade heute etwas zu sagen haben. Würden wir jetzt nur Ausschnitte aus „Boris Godunov“ bringen, ohne Chöre, hätte ich das Gefühl etwas zu machen, das mit mir nichts zu tun hat, das ich eigentlich gar nicht verantworten kann.

Jetzt schlüge die Stunde kleinerer Ensembles: Barock, Frühklassik, all das ginge viel eher als Wagners wuchtige „Götterdämmerung“. Doch mit Barock hat die Hamburger Staatsoper trotz ihrer Vorgeschichte nicht viel am Hut.

Delnon: Wir sind da dran. Es soll pro Saison eine Barock-Oper geben. Inwiefern sich alles verändert, wissen wir nicht. Jetzt machen wir einen corona-tauglichen Anfang, gehen mit Mozart langsam wieder ins Repertoire, mit der „Così“ und der „Zauberflöte“. Natürlich eignen sich die dafür.

Themenwechsel: Sie sind Intendant und Regisseur. Bislang ist mir noch nicht klar, wann und wie Sie gemerkt haben, dass ein Regisseur in Ihnen steckt.

Delnon: So habe ich angefangen… Schon im Gymnasium war ich sehr angetan von Film, von Fellini und Bergman, und bin viel ins Theater gegangen. Da hatte ich das Glück, bei Größen wie Götz Friedrich oder Jean-Pierre Ponnelle zu assistieren, einmal sogar bei Giorgio Strehler. Das waren Erlebnisse.

Und dann sagte jemand: Georges, komm her, mach Du doch.

Delnon: Nein, ich bin den ganz normalen Weg gegangen, angefangen an kleinen Häusern, Schauspiel und Oper. Dann wurden die Häuser größer, ich wurde als Direktionsmitarbeiter für Luzern geholt, habe viel gemacht und viel inszeniert. Nach der Geburt des zweiten Kinds wurde die Reiserei sehr schwierig und ich hatte auch so Lust auf Verantwortung. Deswegen habe ich dann diesen Schritt getan.

Und wann und wie haben Sie, inzwischen Intendant, gemerkt, dass Sie mit dem Komponieren aufhören sollten?

Delnon: Das frage ich mich heute noch, ob ich wirklich aufhören sollte (lacht). Vielleicht kommt es ja wieder. Ich sitze öfters am Klavier und… versuche was. In meiner Jugend hatte ich ein großes Faible für Jazz, habe Gitarre und Saxophon gespielt, und in der Neuen Musik vermisse ich manchmal das Suchtpotenzial.

Schweizer, Opern-Intendant und Komponieren, da kommt sofort ein Name ins Bild gerauscht: Rolf Liebermann, einer ihrer Hamburger Vorgänger. Und zack: Unsterblichkeit. Also lieber vielleicht nicht komponieren, denn es gab schon jemanden?

Delnon: Nein! Er war als Komponist eine andere Liga. Und wenn ich es richtig gelesen habe, hat er während seiner Zeit hier nicht komponiert.

Was ist der beste Intendanten-Trick, um das riesige Ego eines Opern-Sängers und einer Opern-Sängerin kleinzukriegen?

Delnon: Man muss immer noch B-Lösungen im Kopf haben. Vor allem aber muss man der Person immer glaubhaft vermitteln, dass man ohne sie völlig verloren wäre und nur sie alles retten würde.

Und die schönste dumme Ausrede, mit denen Ihnen jemand andrehen wollte, er oder sie sei gerade unpässlich?

Delnon: Schwer zu sagen… Es ist immer problematisch, wenn Familie ins Feld geführt wird. Kind krank, Mutter krank. Man hat automatisch Respekt, aber oft weiß man, dass das als Keule gebraucht wird. Das ist dann schwierig.

Ihr jetziger Staatsopern-Vertrag läuft bis 2025, dann sind Sie 67. Heißt das dann: Feierabend, Kühe hüten im Berner Oberland? Sind Sie da ähnlich gestrickt wie Ihre Kollegin Karin Beier am Schauspielhaus, die sagte, das kann nichts mehr toppen?

Delnon: Hat sie auch gesagt, dass wir gemeinsam etwas planen…?

Tun Sie sich keinen Zwang an…

Delnon: … Wir haben uns vorgenommen, in zwei Jahren ein kleineres Get-together der beiden Institutionen zu machen. Mehr sage ich nicht. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Natürlich bin ich mit 67 Rentner. Nur: Ob ich im Berner Oberland Kühe hüten würde, das glaube ich nicht. Das ist anstrengend.

Welche Musik würden Sie sich freiwillig nie anhören?

Delnon: Oh, sehr viele, sehr viele. Die andere Frage, mit der Musik für die Insel, wäre einfacher zu beantworten… Wir werden gerade überall mit Musik berieselt, die aus meiner Sicht so was von unnötig ist. Wir sollten unsere Ohren schonen und lieber spezifisch Dinge hören, die Mehrwert bringen. Ich bin allergisch gegen diese Hintergrundmusik, das macht mich sehr nervös.

Was ist an Ihnen typisch schweizerisch? Können Sie mit verbundenen Augen eine Uhr reparieren, so etwas in der Art?

Delnon: Eher eine diplomatische Haltung, immer versuchen gut zuzuhören, konstruktive Vorschläge machen. Das ist immer wichtiger geworden in unserem Job: Vermittlungsarbeit, Mediator sein. Es muss am Ende ja immer um die Sache gehen.

Haben Sie in den vielen Jahren, die Sie hier sind, schon schlechte deutsche Eigenschaften übernommen?

Delnon: Was wäre das?

Überpünktlich, penibel…

Delnon:Pünktlich war ich schon immer, penibel vielleicht auch (lacht). Ich lebe gern hier, sehr vieles passt für mich.

2017 haben Sie gesagt, man solle in Hamburg bloß nicht versuchen, lustig zu sein. Das fand ich ja sehr lustig. Ist Ihnen das seitdem schon mal auf die Füße gefallen?

Delnon: Es ist schon ein besonderer Humor hier (lacht).

Zum Abschluss noch die Wunschfee-Frage: Wenn Sie jetzt könnten, wie Sie wollten und alle Sänger ebenfalls, was wäre der Kracher, den Sie so schnell wie möglich auf den Spielplan setzen möchten, um dem Publikum zu zeigen: Voila, so geht Oper, das kann Oper sein, wenn wir alle Regler bis zum Anschlag aufdrehen?

Delnon: Ich mache mir zum einen keine Sorge, dass das nicht wiederkommt, weil ich tatsächlich glaube, dass wir aus dieser Pandemie rauskommen werden und das Bedürfnis nach Oper groß sein wird. Und was Sie jetzt gesagt haben, nehme ich mir eigentlich für jede Oper vor. Jetzt wäre das „Boris Godunov“ gewesen, das wäre ein tolles Stück, um es in unserer Zeit zu machen; wie auch unsere „Elektra“, die ich sehr gern mit der in Salzburg verglichen hätte, um ein Jahr verschieben musste. Aber darüber hinaus: Wenn es etwas gibt, was mich wirklich für die nächsten Jahre beschäftigt, dann: Projekte zu machen, die eine junge Generation ansprechen. Dass wir uns wirklich gezielt Gedanken machen, für die 18- bis 30-Jährigen Sprachen, Bilder und vielleicht auch Formate zu entwickeln, die ihnen näherbringt, was wir tun.

Spielplan-Informationen: www.staatsoper-hamburg.de