Hamburg. Paul M. hat seine Frau bei lebendigem Leib verwesen lassen. Ehemaliger Richter spricht im Podcast über den tragischen Fall.

Eine Matratze liegt auf dem Fußboden, ein Telefon befindet sich in Reichweite, die Toilette ist keine zwei Meter entfernt. Das ist über lange Zeit das Lebensumfeld gewesen, das Lotte M. noch geblieben war. Und irgendwann war sie noch nicht einmal mehr in der Lage, selbst diesen winzigen Radius auszuschöpfen.

Zu krank war die Frau und zu übergewichtig, um sich überhaupt noch zu rühren. Also verharrte sie in der ewig gleichen Lage – bis zu ihrem Tod. Und ihr Mann sah ihrem Leiden untätig zu. „Das ist etwas, was uns als Richter damals fassungslos gemacht hat: die Untätigkeit des Ehemannes“, erzählt der frühere Richter am Schwurgericht in Hamburg, Wolfgang Backen, als Gast im Abendblatt-Crime-Podcast „Dem Tod auf der Spur“ mit Rechtsmediziner Klaus Püschel und Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher.

Kriminalität in Hamburg: Lotte M. verweste bei lebendigem Leib

„Der Mann lebte mit seiner Frau zusammen, die immer weiter verfiel. Frau Lotte M. starb schließlich in extrem menschenunwürdiger Weise. Ihr Mann tat nichts, um ihren Tod zu verhindern oder ihr wenigstens die Lage durch Körperpflege zu erleichtern.“

„Es ging um ganz schweres Leid“, erklärt Püschel. „Die 73-Jährige muss entsetzliche Qualen ausgestanden haben. Denn sie ist gleichsam bei lebendigem Leib verwest. Ich bin stets dafür gewesen, die Dinge klar zu benennen – so wie ich auch immer den Finger direkt in die Wunde gelegt habe.“

Der Fall der todkranken und schließlich in ihrem eigenen Zuhause qualvoll zugrunde gegangenen Lotte M. wurde 2014 bekannt. Einige Monate nach ihrem Versterben musste sich ihr Ehemann vor dem Schwurgericht verantworten. Dem damals 68-Jährigen wurde Totschlag durch Unterlassen vorgeworfen.

„Dem Tod auf der Spur“: Wolfgang Backen schrieb über den Fall

Jurist Backen hat den Fall auch in seinem Buch „Das Leben ist zerbrechlich“ geschildert. Paul M. hatte seine fünf Jahre ältere Frau Lotte im Alter von 20 Jahren kennengelernt. Beide waren zunächst sehr verliebt. Er betrieb ein Musikgeschäft, in dem seine Frau mithalf. Aber schließlich konnte Lotte M. nicht mehr mitgehen. Sie litt unter anderem unter Bluthochdruck und einer Herzleistungsschwäche. Auch die Ehe ging deutlich bergab.

Ihren Ehemann traktierte die Frau zunehmend verbal, putzte ihn sogar in Gegenwart anderer herunter. „Schließlich empfand er nichts mehr für sie; sie war ihm eine Last“, erzählt Backen. Im Frühjahr 2014 gelang es Lotte M. nicht einmal mehr, aus dem Bett zu kommen.

Daraufhin legte ihr Mann für sie eine Matratze direkt an die Wohnungstür, von wo sie leichter das Telefon und WC erreichen konnte. Von da an bis zu ihrem Tod lag Lotte M. Tag und Nacht auf dieser Unterlage. Das Telefon nutzte sie zunächst noch – holte aber keine Hilfe für sich. Spätestens eine Woche vor ihrem Tod war sie dazu aber ebenfalls nicht mehr in der Lage. Sie aß auch zuletzt nichts mehr.

„Sie muss höllische Schmerzen gelitten haben“

„Obgleich ihre Kräfte immer schneller schwanden, wollte Frau M. absolut keine ärztliche Hilfe“, erläutert der Podcast-Gast. „Sie vertraute auf ­obskure Medikamente und Vitamine. Denn sterben wollte sie auf keinen Fall.“

Einem Freund, der vorschlug, man solle wegen ihrer starken Schmerzen einen Arzt verständigen, wies die Frau entrüstet zurecht. Sie wollte unter keinen Umständen Arztbesuche oder ins Krankenhaus.

Die Kranke war mindestens eine Woche vor ihrem Tod am 26. April 2014 nicht mehr in der Lage, ihre Position auf der Matratze selbst zu verändern. Es bildeten sich Druckgeschwüre. Sie lag außerdem auf einem Essteller, der sich tief in ihr wundes Fleisch eingegraben hatte. „Sie muss höllische Schmerzen gelitten haben“, meint Mittelacher. „Und der Ehemann hat nichts anderes getan, als weiter Essen und Trinken hinzustellen.“

Am frühen Morgen des 26. April 2014 begann die Sterbephase von Lotte M., und der Tod wäre nun durch ärztliche Maßnahmen nicht mehr aufzuschieben oder zu verhindern gewesen. Als Paul M. seiner Frau einen guten Morgen wünschte, bekam er keine Antwort mehr. Offenbar war sie in ein Koma gefallen. Als ein Freund des Ehemanns auf dessen Bitten schließlich mittags einen Notarzt alarmierte, konnte dieser nur noch den Tod der Frau feststellen.

Das Urteil über Paul M. am Hamburger Schwurgericht

„Im Prozess stellte sich der Fall rechtlich – trotz aller schrecklichen Umstände – nicht als Totschlag durch Unterlassen dar“, erläutert Jurist Backen. „Es war so, dass die Frau möglicherweise bis zum Eintritt der moribunden Phase geistig noch in der Lage gewesen war, über ihr Leben und ihren Tod selbst zu bestimmen.“ So hatte es eine Sachverständige ausgeführt.

Der Angeklagte Paul M. wurde allerdings wegen Misshandlung einer Schutzbefohlenen, nämlich seiner Ehefrau, zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, „die wir aber zur Bewährung ausgesetzt haben“, so Backen.

Er hatte sich strafbar gemacht, da er seiner Frau, als sie nicht mehr in der Lage war, für sich selbst zu sorgen oder andere darum zu bitten, nicht die erforderliche pflegerische und schmerzlindernde Hilfe zukommen ließ. Hier trifft dem Ehemann nicht nur eine moralische, sondern auch eine rechtliche Pflicht mit strafrechtlichen Konsequenzen.