Hamburg. Diesmal erklären Wissenschaftler, weshalb finanzielle Unabhängigkeit, Disziplin und das Entwickeln von Plänen wichtig sind.

Wenn ich groß bin ... Für Kinder ist es der größte Wunsch, erwachsen zu werden. Doch es gelingt nicht jedem. Prof. Dr. Peter Wetzels von der Fakultät für Rechtswissenschaft und Prof. Dr. Michael Schulte-Markwort, Ärztlicher Leiter des Zentrums für Psychosoziale Medizin im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf erklären, woran man einen Erwachsenen erkennt, wieso anscheinend gerade Hamburger (zu) lange jugendlich bleiben, wodurch man den Abnabelungsprozess fördern kann, und wann wir alle wieder infantil werden.

In welchen Situationen sind Sie ein Kind?

Prof. Dr. Peter Wetzels: Manchmal würde ich gerne wieder so wie früher in die Welt hinausgehen und mich Sachen trauen, die ich eher nicht mehr mache. Dinge einfach ausprobieren, das eröffnet einem Erlebniswelten, die junge Menschen in höherem Maße haben als ich.

Prof. Dr. Michael Schulte-Markwort: Ich habe das Glück, dass ich beruflich Kind bleiben muss, da ich die Kinder von heute sonst nicht mehr verstehen würde. Meine jüngste Patientin ist fünf Jahre alt, meine älteste 28. Das heißt, ich kann an einem Tag unterschiedlich alt sein. So habe ich immer Anschluss an meine eigene Kindheit, ein gutes Gefühl.

Bei meinen Recherchen bin ich immer wieder auf drei Fragen gestoßen, die angeblich zeigen, ob man erwachsen ist. Die erste lautet: Übernimmst du für dich und dein Handeln Verantwortung? Trägt man die Konsequenzen seiner Taten alleine? Wer sich in kniffligen Situationen von seinen Eltern „rausboxen“ lässt, verhält sich demnach nicht erwachsen.

Schulte-Markwort: Ich glaube, dass wir auch als Erwachsene immer noch Unterstützung von Freunden oder Familie brauchen. Wann macht man schon etwas komplett alleine? Nein, Eltern dürfen ruhig helfen. In dem Zusammenhang hört man leider häufig den Vorwurf, Eltern, die sich zu sehr kümmern, seien „Helikopter-Eltern.“ Was für ein Unsinn. Toll, dass Eltern heute fürsorglicher sind als in der Vergangenheit.

Wetzels: Erwachsen werden hat zwar mit dem Erringen von Autonomie zu tun, doch selbst in meinem Alter suche ich noch Unterstützung oder Rat bei älteren Leuten. Die haben Dinge erlebt, die Menschen meiner Generation nicht kennen. Das ermöglicht ganz andere, hilfreiche Sichtweisen auf bestimmte Probleme oder Fragen.

Ein weiteres Merkmal für das Erwachsensein soll die Frage darstellen: Triffst du deine eigenen Entscheidungen? Ist das ein Merkmal für einen erwachsenen Charakter?

Schulte-Markwort: Wer weiß schon, was er will? Wir sind doch alle zu einem gewissen Grad manipulierbar. Niemand ist frei von Einflüssen. Natürlich habe ich einen eigenen Willen, aber dieses meiner Ansicht nach fragwürdige Ideal, etwas nur aus sich heraus zu bestimmen, das gibt es nicht.

Wetzels: Aber es stellt sich die Frage: Will ich Unterstützung suchen, oder muss ich Unterstützung suchen? Wird sie mir aufgedrängt, oder hole ich sie mir? Das macht einen Unterschied. Als Erwachsener entscheide ich deutlich eigenständiger und weiß vor allem, was ich nicht will.

Die dritte Frage: Bist du finanziell unabhängig? Ist zumindest dies ein wichtiger Punkt im Abnabelungsprozess?

Schulte-Markwort: Damit kommen wir der Sache näher. Wirtschaftliche Autonomie ist ein wichtiger Teil im Erwachsenenleben. Junge Leute sind sehr stolz auf ihr erstes eigenes Geld.

Wetzels: Einige von denen machen jedoch Schulden oder kaufen Dinge auf Raten, und dann frage ich mich: Sind die wirklich erwachsen? Sich seinen eigenen teuren Flatscreen leisten zu können ist kein Anzeichen dafür, erwachsen zu sein, sondern grenzt manchmal an Selbstüberschätzung.

Als ich die drei Fragen bejahen konnte, kam ich mir immer noch nicht erwachsen vor. Bei mir schlug dieses Gefühl erst ein, als mein erstes Kind zur Welt kam. Gibt es das Erwachsenwerden über Nacht?

Schulte-Markwort: Das Erlebnis einer Geburt konfrontiert einen oft erstmalig mit der eigenen Endlichkeit. Tatsächlich kommt man in dem Moment emotional auf eine andere Stufe. Frauen vielleicht noch intensiver, da sie die Geburt körperlicher spüren. Aber auch Väter übernehmen plötzlich automatisch eine ganz andere Form von Verantwortung.

Wetzels: Diesen Reifeprozess über Nacht erleben aber nicht alle Mütter und Väter. Wir sollten uns vorsehen, mit der Elternschaft gleich die Kompetenz des Elternseins zu assoziieren. Aus der kriminologischen Forschung wissen wir, gerade Teenager-Mütter sind eine relevante Risikogruppe. Sie möchten gern die Rolle der Mutter übernehmen. Das kleine Etwas vor ihnen schreit geradezu danach, dass sie diese Rolle übernehmen. Aber die jungen Frauen stoßen an Grenzen, weil sie auch Dinge tun wollen, die dieser Verpflichtung entfliehen. Es gibt Lebensübergänge, die zu früh passieren. In solchen Fällen ist es wichtig, dass Teile von Betreuungsaufgaben von staatlichen Stellen mitgeleistet werden.

Warum wurde die 18 als magische Zahl, als das Datum der Mündigkeit eingeführt? Inwiefern ist man dann erwachsener als ein Tag vorher mit 17?

Schulte-Markwort: Das hat nur juristische Gründe, das Erwachsen werden ist natürlich ein kontinuierlicher Prozess. Mit 18 ist noch längst nicht alles geregelt, viele brauchen durchaus länger, um erwachsen zu werden. Meiner Erfahrung nach wäre 25 das passendere Alter, um wirklich als mündig zu gelten.

Wetzels: Deshalb legt unser Strafrecht nicht fest, ob man mit 18, 19 oder 20 als Erwachsener behandelt wird, sondern entscheidend ist hier, wie weit ein junger Mensch entwickelt ist. Daraus ergibt sich, welche Art von Recht und Rechtsfolgen wir anwenden. Die Strafmündigkeit setzt mit 14 ein, aber nur, wenn der 14-Jährige auch so entwickelt ist, wie man es erwartet. Ich habe durchaus 15-Jährige kennengelernt, die auf dem Entwicklungsstand eines Elfjährigen waren.

Schulte-Markwort: Ich finde es spannend, dass heutzutage bis 21 Jahre automatisch das Jugendstrafrecht angewendet wird.

Wetzels: In Hamburg kann man diesen Eindruck gewinnen, da haben wir eine sehr hohe Quote von unter 21-Jährigen, bei denen wir noch das Jugendstrafrecht anwenden. In einigen anderen Regionen Deutschlands sieht es leider anders aus.

Sind die Hamburger denn weniger erwachsen als der Rest der Bundesrepublik?

Schulte-Markwort: Nein, die Richter sind nachsichtiger, oder?

Wetzels: Damit unterstellen Sie, dass die jugendstrafrechtliche Reaktion milder ausfällt. Das ist aber keineswegs der Fall. Nach Jugendstrafrecht Bestrafte sind mitunter länger bestraft als diejenigen, die nach Erwachsenen-Strafrecht verurteilt werden.

Herr Wetzels, Sie fordern, das Jugendstrafrecht bis 25 zuzulassen. Warum?

Wetzels: Weil es mehr Handlungsmöglichkeiten bietet. Welche Strafen kennen wir denn für Erwachsene? Die Geldstrafe und die Freiheitsstrafe mit oder ohne Bewährung. Im Jugendstrafrecht können wir erzieherische Maßnahmen anwenden wie soziale Trainingskurse. Im Hinblick auf erneutes strafbares Verhalten wirken sich solche Angebote deutlich günstiger aus als Freiheitsentziehungen.

Was halten Sie als Kinderpsychiater davon?

Schulte-Markwort: Sehr viel. Adoleszenz dauert bis 25. Die größte Gruppe unserer Adoleszentenstation im UKE sind die 18- bis 21-Jährigen. Das sind Jugendliche, die nicht weiterkommen in ihrer Entwicklung. Um die müssen wir uns kümmern. Es gibt eine Metapher, die gut erklärt, um was es bei unserem Thema eigentlich geht: das begleitete Autofahren ab 17 Jahren. Wir schauen zu, wir sind dabei! Die Unfallzahlen von Fahranfängern sind auf diese Weise dramatisch runtergegangen.

Die Forschung spricht von einer sogenannten Wachstumslücke. Was genau besagt die?

Wetzels: Der Begriff bezeichnet die Ungleichzeitigkeit von Entwicklungsniveaus in verschiedenen Bereichen. Es geht unter anderem um das Phänomen, dass die biologische Entwicklung unserer jungen Generationen immer schneller vorangeht, sie aber immer länger braucht, um sich in die Erwachsenenwelt zu integrieren. Die Anforderungen der Erwachsenenwelt werden zahlreicher. Was wir von unseren jungen Leuten heute erwarten, ist immens. Die Diskrepanz zwischen der bereits vorhandenen Muskelkraft und der noch nicht vorhandenen Einsicht, dass Muskelkraft in einer bestimmten Situation nicht die beste Lösung ist – das kennzeichnet die Wachstumslücke.

Wenn ich Sie richtig verstehe, ist es so, dass es heute viel schwieriger ist, erwachsen zu werden als früher?

Schulte-Markwort: Schwer zu sagen. Historische Vergleiche haben immer einen romantisch gewendeten Rückwärtsblick. Nehmen wir das Bullerbü-Ideal. Im Grunde wurden die Kinder da vernachlässigt. Ich habe den Eindruck, dass die jungen Leute heute immer sozial-kompetenter und reflek-tierter werden.

Kann ich erwachsen sein, wenn ich noch gern Nintendo spiele?

Für Prof. Dr. Peter Wetzels (r.) stellt der Rucksack ein Symbol für die Jugend dar, weil man noch frei und ungebunden ist. Prof. Dr. Michael Schulte-Markwort vergleicht Erwachsenwerden mit einer Raupe, die zum Schmetterling wird.
Für Prof. Dr. Peter Wetzels (r.) stellt der Rucksack ein Symbol für die Jugend dar, weil man noch frei und ungebunden ist. Prof. Dr. Michael Schulte-Markwort vergleicht Erwachsenwerden mit einer Raupe, die zum Schmetterling wird. © HA | Roland Magunia

Schulte-Markwort: Das stellt überhaupt kein Widerspruch dar. Das gehört doch auch zum Erwachsenenleben dazu. Warum stehen denn 55.000 Männer im Stadion und schauen zu, wie 22 Männer einen Ball hin- und herkicken? Das ist nichts anderes als Spielen und Teilhaben an Spielen.

Britney Spears hat in einem Lied gesungen: „I’m not a girl, not yet a woman.“ Bleiben viele in dieser Grauzone hängen, und welche Konsequenzen könnte das haben?

Schulte-Markwort: Es gibt Erwachsene, die sich weigern, erwachsen zu werden. Das hat mit einer endlosen Sehnsucht nach Versorgung und der Verweigerung von Verantwortungsübernahme zu tun. Dieses Denken wird sehr von bestimmten Industrien wie der Mode- oder Musikindustrie gefördert. Die unterstützen, dass man jung bleiben muss.

Erwachsenwerden wird auch als Auseinandersetzung mit einem selbst gesehen. Es ist ein Prozess und kein Zustand. Kann man sich demnach auch zurückentwickeln?

Schulte-Markwort: Ja, das gibt es. Auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gibt es das Phänomen der malignen Regression. Suizid-Gefährdete beispielsweise können wir nicht entlassen, da sie sich ansonsten etwas antun. Sie haben sich psychisch betrachtet zurückentwickelt.

Kann das jeden treffen?

Wetzels: Es wird jeden treffen! Im Alter von 80 bis 90 Jahren können viele Menschen nicht mehr die vollständige Verantwortung für alle ihre Entscheidungen tragen. Wenn sie klug waren, haben sie weit vorher für diese Zeit Vorsorge getroffen, in der Hoffnung, dass die Menschen, denen sie vertrauen, dann für sie eintreten. Das Leben hat einen kurvenlinearen Verlauf: Unsere Fähigkeiten steigen an und gehen wieder zurück. Je länger wir leben, desto größer die Wahrscheinlichkeit, wieder in einen infantilen Zustand zurückzugeraten.

Es gibt den Spruch: „Alt wird man von allein, erwachsen nicht.“ Was unterscheidet alt sein und erwachsen sein?

Wetzels: Der biologische Alterungsprozess geht schlicht vonstatten. Der Prozess des Erwachsenwerdens hingegen setzt eine aktive Auseinandersetzung und Kontakt mit der Umwelt voraus.

Das heißt, ich kann selbst etwas dafür tun, erwachsen zu werden? Indem ich beispielsweise was mache?

Schulte-Markwort: Indem Sie einen Schulabschluss erlangen, viel lesen, etwas lernen, reflektieren, über sich nachdenken. Ein Erwachsener sollte in der Lage sein, seinen Tag zu strukturieren, aufzuräumen, einer Arbeit nachzugehen, Pläne zu entwickeln. Es gibt Menschen, die kommen morgens nicht aus dem Bett. Die sagen sich: Morgen suche ich mir eine Ausbildung. Morgen suche ich mir eine Arbeit. Immer nur morgen.

Ist es dann ein Zeichen von Erwachsensein, wenn man Dinge tut, auf die man keine Lust hat?

Schulte-Markwort: Disziplin ist ein grundlegender Teil des Erwachsenenlebens. Ohne Disziplin wird man nicht bestehen. Genauso muss man in der Lage sein, verzichten zu können, z. B. wenn man ein Kind bekommt.

Ist die Erledigung der Steuererklärung die letzte große Hürde, um im Club der Erwachsenen mitzuspielen?

Schulte-Markwort: Oje, die erledigt für mich mein Steuerberater. Dann bin ich nicht erwachsen.

Wetzels: Und ich auch nicht.